Vergil - Ecloge I - Tityrus


Ecloge I



Tityrus



Nachdem Oktavian mit Hilfe seiner Verbündeten seine Widersacher in den Jahren 42 und 41 v. Chr. ausgeschaltet hatte, mussten seine Soldaten entlohnt werden. Ungefähr 200.000 Veteranen wurden Ländereien in Cremona und Mantua zugesprochen. Dieses Land war jedoch nicht unbewohnt. Die dort lebenden Menschen, zumeist Bauern, wurden enteignet und vertrieben.
Auch Vergil musste sein Land zunächst abtreten, erlangte dieses jedoch später durch den Einsatz seiner Freunde von Oktavian zurück.

Vermutlich hat Vergil deshalb sein eigenes Glück in der Gestalt des Hirten Tityrus innerhalb dieser Ecloge dargestellt. Meliboeus hingegen verkörpert die zahlreichen unglücklichen Bauern, die ihr Land nicht behalten durften. Vor einer fiktiven Spielstätte, die sich aus Elementen von Nord- und Oberitalien, Arkadien und Sizilien zusammensetzt, findet ein Dialog zwischen den Beiden statt. Zentrale Themen der Ecloge sind Liebe, Freundschaft, die Bedeutung der Heimat und der Verlust von Besitztümern. Nachdem Tityrus autobiographisch seine Geschichte erzählt hat, folgt ein Ausblick auf die Zukunft der beiden Hirten.









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Meliboeus:
Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi
silvestrem tenui Musam meditaris avena;
nos patriae fines et dulcia linquimus arva.
nos patriam fugimus; tu, Tityre, lentus in umbra
formosam resonare doces Amaryllida silvas.


Tityrus:
O Meliboee, deus nobis haec otia fecit.
namque erit ille mihi semper deus, illius aram
saepe tener nostris ab ovilibus imbuet agnus.
ille meas errare boves, ut cernis, et ipsum
ludere, quae vellem, calamo permisit agresti.


Meliboeus:
Non equidem invideo, miror magis; undique totis
usque adeo turbatur agris. en ipse capellas
protenus aeger ago; hanc etiam vix, Tityre, duco.
hic inter densas corylos modo namque gemellos,
spem gregis, a, silice in nuda conixa reliquit.
saepe malum hoc nobis, si mens non laeva fuisset,
de caelo tactas memini praedicere quercus.
sed tamen, iste deus qui sit, da, Tityre,nobis.




Tityrus:
Urbem, quam dicunt Romam, Meliboee, putavi
stultus ego huic nostrae similem, quo saepe solemus
pastores ovium teneros depellere fetus.
sic canibus catulos similes, sic matribus haedos
noram, sic parvis componere magna solebam.
verum haec tantum alias inter caput extulit urbes
quantum lenta solent inter viburna cupressi.


Meliboeus:
Et quae tanta fuit Romam tibi causa videndi?


Tityrus:
Libertas, quae sera tamen respexit inertem,
candidior postquam tondenti barba cadebat,
respexit tamen et longo post tempore venit,
postquam nos Amaryllis habet, Galatea reliquit.
namque - fatebor enim - dum me Galatea tenebat,
nec spes libertatis erat nec cura peculi.
quamvis multa meis exiret victima saeptis
pinguis et ingratae premeretur caseus urbi,
non umquam gravis aere domum mihi dextra redibat.


Meliboeus:
Mirabar, quid maesta deos, Amarylli, vocares,
cui pendere sua patereris in arbore poma.
Tityrus hinc aberat. ipsae te, Tityre, pinus,
ipsi te fontes, ipsa haec arbusta vocabant.


Tityrus:
Quid facerem? neque servitio me exire licebat
nec tam praesentis alibi cognoscere divos.
hic illum vidi iuvenem, Meliboee, quot annis
bis senos cui nostra dies altaria fumant,
hic mihi responsum primus dedit ille petenti:
'pascite, ut ante, boves, pueri, submittite tauros.'


Meliboeus:
Fortunate senex! ergo tua rura manebunt
et tibi magna satis, quamvis lapis omnia nudus
limosoque palus obducat pascua iunco.
non insueta gravis temptabunt pabula fetas
nec mala vicini pecoris contagia laedent.
fortunate senex! hic inter flumina nota
et fontis sacros frigus captabis opacum;
hinc tibi, quae semper, vicino ab limite saepes
Hyblaeis apibus florem depasta salicti
saepe levi somnum suadebit inire susurro;
hinc alta sub rupe canet frondator ad auras,
nec tamen interea raucae, tua cura, palumbes
nec gemere aeria cessabit turtur ab ulmo.


Tityrus:
Ante leves ergo pascentur in aethere cervi
et freta destituent nudos in litore pisces,
ante pererratis amborum finibus exsul
aut Ararim Parthus bibet aut Germania Tigrim,
quam nostro illius labatur pectore vultus.


Meliboeus:
At nos hinc alii sitientis ibimus Afros,
pars Scythiam et rapidum cretae veniemus Oaxen
et penitus toto divisos orbe Britannos.
en umquam patrios longo post tempore finis
pauperis et tuguri congestum caespite culmen,
post aliquot, mea regna, videns mirabor aristas?
impius haec tam culta novalia miles habebit,
barbarus has segetes. en quo discordia civis
produxit miseros; his nos consevimus agros!
insere nunc, Meliboee, piros, pone ordine vites.
ite meae, felix quondam pecus, ite capellae.
non ego vos posthac viridi proiectus in antro
dumosa pendere procul de rupe videbo;
carmina nulla canam; non me pascente, capellae,
florentem cytisum et salices carpetis amaras.



Tityrus:
Hic tamen hanc mecum poteras requiescere noctem
fronde super viridi. sunt nobis mitia poma,
castaneae molles et pressi copia lactis,
et iam summa procul villarum culmina fumant
maioresque cadunt altis de montibus umbrae.


Meliboeus:
Tityrus, du, der du auf dem Rücken unter dem Dach der breiten Buche liegst, übst mit deiner zarten Flöte ein ländliches Lied.
Ich lasse die Grenzen und süßen Gefilde unseres Vaterlandes zurück.
Ich fliehe aus der Heimat. Du, Tityrus, lehrst lässig unter dem Schatten die Wälder, die „schöne Amaryllis“ widerzuhallen.


Tityrus:
O Meliboeus, ein Gott hat mir diese Muße gegeben.
Ja freilich wird jener Gott mir immer sein, oft wird ein zartes Lamm von unseren Schafen seinen Altar besudeln.
Jener gestattet, dass meine Rinder umherirren, wie du bemerkst, und dass ich selbst auf meinem ländlichen Rohr spiele, was ich will.


Meliboeus:
Ich beneide dich freilich nicht, mehr staune ich: Überall auf den ganzen Äckern wird in einem fort große Unruhe gestiftet.
Ich selbst, siehst du, treibe leidend die Ziegen forwärts, kaum noch führe ich diese, Tityrus.
Hier zwischen dichten Haselstauden ließ sie vor Kurzem, zwei Junge zurück, die Hoffnung der Herde, ach weh, nachdem sie sie auf nacktem Stein geboren hatte.
Ich erinnere mich, dass mir dieses Übel oft Eichen, vom Himmel getroffen, vorhersagten, wenn mein Verstand nicht töricht gewesen wäre.
Aber dennoch sag uns, Tityrus, wer dieser Gott ist.


Tityrus:
Einfältig glaubte ich, die Stadt, die sie Rom nennen, Meliboeus, sei dieser unsrigen ähnlich, wo wir Hirten die zarten Nachkommen unserer Schafe gewöhnlich oft absetzen.
So wusste ich, dass die Hündchen den Hunden ähnlich, die Böcklein den Müttern ähnlich sind, stellte auf diese Weise Großes Kleinem gegenüber.
Aber unter den anderen Städten hob diese ihr Haupt so hoch, wie die Zypressen ihrs gewöhnlich zwischen den biegsamen Schlingbäumen.


Meliboeus:
Und welch so wichtigen Grund hattest du, Rom zu sehen?


Tityrus:
Die Freiheit war’s, die jedoch spät den Trägen hinter sich erblickte, als mein ziemlich weißer Bart mir Scherendem fiel.
Doch blickte sie zurück und nach langem Verzug kam sie, seit mich Amaryllis besitzt, Galatea verlassen hat.
Freilich – ich werde es gestehen – solange Galatea mich hielt, bestand weder Hoffnung auf Freiheit noch Sorge um mein Vermögen.
So viel Opfertier aus meinen Gehegen auch hervorging und noch so fetter Käse der undankbaren Stadt gepresst wurde, kehrte mir meine Hand niemals mit Geld beladen nach Hause zurück.


Meliboeus:
Ich wunderte mich, warum du, Amaryllis, traurig die Götter riefst, für wen du Obst an seinem eigenen Baume hängen ließt.
Tityrus war fern von hier. Selbst die Pinien riefen dich, Tityrus, selbst die Quellen, selbst diese Gebüsche.


Tityrus:
Was hätte ich tun sollen? Weder hätte ich der Knechtschaft entschwinden noch anderswo so hilfreiche Götter kennenlernen können.
An diesem Ort sah ich jenen Jüngling, Meliboeus, für den mein Opferherd alljährlich zweimal je sechs Tage qualmt.
An diesem Ort gab jener mir, als ich fragte, als erster die Antwort:
„Ihr Jungen, lasst weiden die Rinder, wie früher; Zieht Stiere auf.“


Meliboeus:
Glücklicher Greis! Also werden dir deine Felder bleiben und sie werden groß genug für dich sein, obgleich nackter Stein und Sumpf mit schlammiger Binse die ganze Weide überziehen.
Weder wird ungewohntes Futter deine trächtigen Rinder bedrohen noch werden ansteckende Krankheiten des Nachbarsvieh sie schädigen.
Glücklicher Greis! Hier zwischen bekannten Flüssen und heiligen Quellen wirst du nach schattiger Kühle schnappen;
Hier von der benachbarten Grenze wird dir der Weidegebüschzaun, bezugs der Blüte abgeflogen von hybläischen Bienen, oft raten, was er immer rät, nämlich mit sanftem Surren zu träumen. Dort, unten an der Felswand wird der Baumscherer hoch in die Lüfte singen, und doch werden indes weder die heiseren Waldtauben, deine Sorge, aufhören zu girren noch die Turteltaube von hoher Ulme.


Tityrus:
Also werden eher leichtfüßige Hirsche am Äther weiden und die Meere Fische nackt am Strand zurücklassen, eher wird, sobald der eine die Grenze des anderen überschritten haben wird, entweder ein Parther vom Arar oder Germania vom Tigris trinken, als dass dessen Antlitz meinem Herzen entschwindet.


Meliboeus:
Aber wir werden von hier losziehen, zu den Afrern der eine Teil, der andere nach Skythien und zum Kreide mit sich führenden Oaxis und zu den Britanniern, völlig abgetrennt vom ganzen Erdkreis.
Siehe da, werde ich jemals staunen, wenn ich nach langer Zeit meine vaterländischen Grenzen und das mit Gras bedeckte Dach meiner spärlichen Hütte, mein Reich, dahinter irgendwelche Ähren sehe?
Ein gewissenloser Soldat wird diesen so sehr gepflegten Neubruch besitzen, ein Barbar diese Saat. Siehe da, wohin die Zwietracht die elendigen Bürger hingeführt hat. Für diese haben wir die Felder besät!
Pflanz nun ein, Meliboeus, die Birnbäume, lege die Weinreben der Reihe nach an.
Geht meine Ziegen, einst glückliches Vieh.
Künftig werde ich, daliegend in einer grünlichen Höhle, nicht mehr sehen, dass ihr in der Ferne an einem buschigen Fels schwebt.
Keine Lieder werde ich mehr singen. Nicht unter meiner Obhut, ihr Ziegen, werdet ihr die Schneckenkleeblüte und den bitteren Weidenbaum abfressen.


Tityrus:
Du könntest doch auch mit mir diese Nacht lang auf grünem Laub ruhen. Uns sind mildes Obst, weiche Kastanien und eine Menge an Käse, und in der Ferne qualmen bereits die Dächer der Landhäuser und von den hohen Berge fallen größere Schatten.


Hilfen zur Übersetzung

(5) resonare : widerhallen
(10) quae : konsekutiver Nebensinn
(15) reliquit und conixa : Bezug auf hanc
(21) depellere : absetzen (v. d. Mutter)
(23) noram : verkürztes Perfekt von noveram (novisse)
(24) exferre : in die Höhe heben
(32) peculium : Vermögen
(36) Amarylli : Vokativ von Amaryllis
(37) patereris : Konj. Imp. Pass. von pati
(41) cognoscere : ersehen
(42) vidi [...] : Erscheinung eines Herren (Epiphanie)
(49) gravis : (=graves) gemeint sind schwere Rinder, also trächtige
(53) saepes […] depasta salicti : ein Graezismus. Accusativus limitationis. Obwohl das logische Objekt der Bienen schon saepes ist, tritt das Akkusativobjekt florem hinzu. Florem grenzt den Bereich des Abfliegens (depasta) ein.
(66) penitus : völlig (Intensivum)
(69) arista : Ähre
(75) posthac : künftig
(81) pressi lactis copia : eine Menge an gepresster Milch, also Käse (so auch premere lac : Käse herstellen)



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