|
Tacitus - Agricola - Kapitel X-XVII: Ethno- und Geographie Britanniens; Prozess der Eroberung |
| Kapitel X-XVII: Ethno- und Geographie Britanniens; Prozess der Eroberung | | |
|
10. Geographie Britanniens |
[10] Britanniae situm populosque multis scriptoribus memoratos non in comparationem curae ingeniive referam, sed quia tum primum perdomita est. Ita quae priores nondum comperta eloquentia percoluere, rerum fide tradentur. Britannia, insularum quas Romana notitia complectitur maxima, spatio ac caelo in orientem Germaniae, in occidentem Hispaniae obtenditur, Gallis in meridiem etiam inspicitur; septentrionalia eius, nullis contra terris, vasto atque aperto mari pulsantur. Formam totius Britanniae Livius veterum, Fabius Rusticus recentium eloquentissimi auctores oblongae scutulae vel bipenni adsimulavere. Et est ea facies citra Caledoniam, unde et in universum fama [est]. Transgressis inmensum et enorme spatium procurrentium extremo iam litore terrarum velut in cuneum tenuatur. Hanc oram novissimi maris tunc primum Romana classis circumvecta insulam esse Britanniam adfirmavit, ac simul incognitas ad id tempus insulas, quas Orcadas vocant, invenit domuitque. Dispecta est et Thule, quia hactenus iussum, et hiems adpetebat. Sed mare pigrum et grave remigantibus perhibent ne ventis quidem perinde attolli, credo, quod rariores terrae montesque, causa ac materia tempestatum, et profunda moles continui maris tardius impellitur. Naturam Oceani atque aestus neque quaerere huius operis est, ac multi rettulere. Unum addiderim, nusquam latius dominari mare, multum fluminum huc atque illuc ferre, nec litore tenus adcrescere aut resorberi, sed influere penitus atque ambire, et iugis etiam ac montibus inseri velut in suo.
|
[10] Über Britanniens Lage und seine Völker, von vielen Schriftstellern beschrieben, will ich nicht zum Vergleich meiner Forschung oder meines Talents berichten, sondern weil es damals zum ersten Mal gänzlich bezwungen wurde. So wird nun mit der Wahrhaftigkeit von Tatsachen dargelegt, was die Früheren, weil noch nicht erforscht, mit Beredsamkeit ausschmückten. Britannien, die größte der Inseln, von der wir Römer Kenntnis haben, zieht sich in Hinblick auf Raum und Lage im Osten vor Germanien, im Westen vor Spanien hin, im Süden wird es auch von den Galliern erblickt; Britanniens Norden, keinem Land gegenüberliegend, wird vom weiten und offenen Meer gepeitscht. Livius von den Älteren, Fabius Rusticus von Jüngeren, beide äußerst beredte Schriftsteller, haben die Form ganz Britanniens mit einer länglichen Raute oder ein Doppelaxt verglichen. Und dies ist das Aussehen diesseits von Caledonien, woher das Gerede allgemein herkommt. Für denjenigen, der hinübergegangen ist, verengt sich der unermesslich große Raum der Landmassen, die schon am Rand der Küste vorspringen, keilförmig. Diese Küste des äußersten Meeres umfuhr damals zum ersten Mal eine römische Flotte und bestätigte, dass Britannien eine Insel sei; zugleich fand und bezwang sie bis dahin unbekannte Inseln, die man Orcades nennt. Auch Thule erspähte man, weil bis hierher befohlen wurde, und der Winter herannahte. Das aber träge und für Ruderer unbequeme Meer, so sagt man, werde nicht einmal durch Winde in gleicher Weise emporgehoben – ich glaube, weil Länder und Berge, Ursache und Veranlassung für Stürme, seltener sind und die tiefe Masse eines ununterbrochenen Meeres langsamer in Bewegung gesetzt wird. Das Wesen des Ozeans und der Flut ist nicht Aufgabe dieses Werks, und viele haben darüber referiert. Eins möchte ich hinzufügen: Nirgendwo herrscht das Meer weitläufiger, führt hierhin und dorthin viele Ströme, und wächst nicht nur bis zur Küste an oder fließt zurück, sondern strömt tief hinein und umzu, und fügt sich auch Gebirgszügen und Bergen ein, als wäre es in seinem eigenen Bereich.
| 11. Ethnographie Britanniens, Ursprung der Menschen |
[11] Ceterum Britanniam qui mortales initio coluerint, indigenae an advecti, ut inter barbaros, parum compertum. Habitus corporum varii atque ex eo argumenta. Namque rutilae Caledoniam habitantium comae, magni artus Germanicam originem adseverant; Silurum colorati vultus, torti plerumque crines et posita contra Hispania Hiberos veteres traiecisse easque sedes occupasse fidem faciunt; proximi Gallis et similes sunt, seu durante originis vi, seu procurrentibus in diversa terris positio caeli corporibus habitum dedit. In universum tamen aestimanti Gallos vicinam insulam occupasse credibile est. Eorum sacra deprehendas ac superstitionum persuasiones; sermo haud multum diversus, in deposcendis periculis eadem audacia et, ubi advenere, in detrectandis eadem formido. Plus tamen ferociae Britanni praeferunt, ut quos nondum longa pax emollierit. Nam Gallos quoque in bellis floruisse accepimus; mox segnitia cum otio intravit, amissa virtute pariter ac libertate. Quod Britannorum olim victis evenit: ceteri manent quales Galli fuerunt.
|
[11] Welche Menschen Britannien ursprünglich bewohnt haben, ob Eingeborene oder Zugezogene, ist im Übrigen – wie unter Barbaren üblich – zu wenig erforscht. Das Aussehen ihrer Körper ist verschieden und daraus lassen sich Beweise gewinnen: Denn das Haar der Bewohner von Caledonien ist rotblond, ihre großen Gliedmaßen sprechen für germanische Abstammung; die gefärbten Gesichter der Siluren, das gewundene Haar und das gegenüberliegende Spanien erwecken den Glauben, dass die Iberer in früheren Jahren hinübergefahren sind und diesen Boden eingenommen haben; die den Galliern Nächsten sind ihnen auch ähnlich, ob nun durch die andauernde Kraft ihrer Abstammung, oder weil das Klima – ihre Länder ragen in entgegengesetzte Richtungen vor – ihren Körpern das Aussehen gab. Doch sieht man es im Allgemeinen, ist es glaubhaft, dass die Gallier die benachbarte Insel besetzt haben. Ihre heilige Bräuche und ihren religiösen Wahnglauben kann man dort wiederfinden; die Sprach unterscheidet sich kaum, beim Herausfordern von Gefahren haben sie dieselbe Kühnheit und, sowie sie herangekommen sind, legen sie dieselbe Furcht bei deren Verweigerung an den Tag. Doch zeigen die Britannier mehr Wildheit, weil diese noch kein langer Frieden erweicht hat. Denn auch die Gallier blühten in Kriegen, wie wir vernommen haben; mit der Muße kehrte Schläfrigkeit ein, die Tatkraft ging zugleich mit der Freiheit verloren. Dieses Schicksal ereilte auch die besiegten Britannier: die Übrigen blieben, wie einst die Gallier gewesen sind.
| 12. Ethnographie; Klima und Schätze Britanniens |
[12] In pedite robur; quaedam nationes et curru proeliantur. Honestior auriga, clientes propugnant. Olim regibus parebant, nunc per principes factionibus et studiis trahuntur. Nec aliud adversus validissimas gentis pro nobis utilius, quam quod in commune non consulunt. Rarus duabus tribusve civitatibus ad propulsandum commune periculum conventus: ita singuli pugnant, universi vincuntur.
Caelum crebris imbribus ac nebulis foedum; asperitas frigorum abest. Dierum spatia ultra nostri orbis mensuram; nox clara et extrema Britanniae parte brevis, ut finem atque initium lucis exiguo discrimine internoscas. Quod si nubes non officiant, aspici per noctem solis fulgorem, nec occidere et exurgere, sed transire adfirmant. Scilicet extrema et plana terrarum humili umbra non erigunt tenebras, infraque caelum et sidera nox cadit. Solum praeter oleam vitemque et cetera calidioribus terris oriri sueta patiens frugum pecudumque fecundum: tarde mitescunt, cito proveniunt; eademque utriusque rei causa, multus umor terrarum caelique. Fert Britannia aurum et argentum et alia metalla, pretium victoriae. Gignit et Oceanus margarita, sed subfusca ac liventia. Quidam artem abesse legentibus arbitrantur; nam in rubro mari viva ac spirantia saxis avelli, in Britannia, prout expulsa sint, colligi: ego facilius crediderim naturam margaritis deesse quam nobis avaritiam.
|
[12] Im Fußvolk liegt die Kraft; manche Stämme kämpfen auch mit Streitwagen. Der Wagenführer hat mehr Ansehen, die Hörigen kämpfen für ihn. Einst gehorchten sie Königen, jetzt werden sie unter Stammesführern von Parteien und parteilichen Interessen hin- und hergerissen. Für uns ist nichts anderes gegen äußerste starke Völker vorteilhafter, als dass sie keine Beschlüsse im gemeinsamen Interesse fassen. Selten halten zwei oder drei Stämme eine Versammlung ab, um eine gemeinsame Gefahr abzuwenden: So kämpfen sie einzeln, werden als Ganzes besiegt.
Der Himmel ist durch häufigen Regen und Nebel gräßlich; raue Kälte fehlt. Die Tageslängen gehen über das Maß der Tage unserer Breiten hinaus; die Nacht ist klar und im äußersten Teil Britanniens kurz, sodass man Ende und Beginn des Tages nur durch einen geringen Zwischenraum unterscheiden kann. Wenn also die Wolken den Himmel nicht versperren, so versichern sie, erblicke man bei Nacht den Schimmer der Sonne, und weder unter noch auf gehe sie, sondern vorüber. Natürlich erzeugt der flache Rand der Welt mit seinem niedrigen Schatten keine Finsternis, und die Nacht fällt unter Himmel und Sterne. Der Boden kann, abgesehen vom Olivenbaum, der Weinrebe und den übrigen Pflanzen, die gewöhnlich nur in heißeren Gegenden wachsen, Feldfrüchte tragen und ist reich an Vieh: langsam werden sie reif, schnell kommen sie hervor; der Grund für beides ist derselbe: die hohe Feuchtigkeit von Boden und Himmel. Britannien birgt Gold, Silber und andere Metalle, der Lohn für den Sieg. Der Ozean bringt auch Perlen hervor, aber bräunliche und bläuliche. Manche meinen, den Sammlern fehle es an Geschick; denn im roten Meer würden sie lebend und atmend von den Steinen gerissen, in Britannien gesammelt, wie sie an Land gespült würden: ich möchte eher glauben, dass den Perlen diese natürliche Beschaffenheit fehlt, als uns Habgier.
|
Anmerkungen und Hilfen
[10]
non in comparationem curae ingeniive referam : „ich will nicht berichten, um meine sorgfältige Beschäftigung mit Britannien ( = mein Wissen über Britannien) oder mein Talent mit anderen zu vergleichen“
rerum fide : fide (Ablativ) ist eigentlich redundant, da Tatsachen (rerum) immer wahr sind
spatio ac caelo : Abl. limitationis; spatium hier „der Raum“ als geographische Ausdehnung, caelum „die Himmelsgegend“, und weil an diesen die Lage bemessen, metonymisch „Lage“
Gallis : Dat. auctoris, Inkonzinnitäten (hier der Wechsel von Länder- zu Volksbezeichnung) sind bei Tacitus nicht ungewöhnlich; möglich ist allerdings auch die Verwendung einer pluralischen Form für Gallia, cf. Tac. Germ. 5; hist. 2,11
nullis … terris : die Verwendung der dt. Präposition „gegenüber“ mit dem Dativ könnte irrtümlich annehmen lassen, bei nullis terris handle es sich um Dative; contra steht im Lat. allerdings mit dem Akkusativ; der Ausdruck nullis terris lässt sich als nominaler Ablativus absolutus erklären
contra : adverbiell
in universum : „im Allgemeinen“, so wie Tac. ann. 1,12; Germ. 5
transgressis : Dat. respectus („für wen gilt die Aussage?“); intransitiv
vocant : generalisierender Plural
hiems adpetebat : das Imperfekt, weil das Herannahen des Winters noch nicht abgeschlossen ist
perhibent : cf. vocant
remigantibus : Dat. incommodi
causa ac materia tempestatum : appositiv zu terrae montesque
addiderim : potentialis, abmildernd
nusquam latius dominari mare … : der AcI stellt einen Explikativsatz zu unum dar
multum fluminum : seltenere, partitive Verbindung
velut in suo : „als wäre das Hochland auch Gebiet des Meeres“
[11]
qui mortales initio coluerint : indirekte Frage abhängig von compertum (sc. est)
indigenae an advecti : verkürzte indirekte Frage, ebenfalls von compertum (sc. est) abhängig; das utrum oder ne im ersten Glied wird ausgelassen, wenn diesem größere Wahrscheinlichkeit beigemessen wird
veteres : prädikativ
seu durante … vi, seu procurrentibus … terris : Ablativi absoluti, das zweite seu ist allerdings zu dedit zu ziehen
in diversa : gemeint ist „in entgegensetzte Richtungen“, und zwar Gallien nach Norden und Britannien nach Süden, sodass sich beide Länder gegenüberliegen
aestimanti : Dat. respectus, cf. Tac. Agr. 10 transgressis; Germ. 6
deprehendas : (potentialer) generalisierender Konjunktiv
in detrectandis : add. periculis
ut quos … emollierit : synkopiert aus emolliverit; der Konjunktiv wird erklärt durch die von ut implizierte kausale Färbung des Relativsatzes
Gallos … floruisse : denn der Krieg machte sie stark
amissa virtute pariter ac libertate : eine vorzeitige Übersetzung würde m. A. den Sinn entstellen, weil der Grund für den Verlust der Freiheit in der durch Muße induzierten Schläfrigkeit zu suchen ist
ceteri : sc. adhuc invicti
[12]
propugnant : add. pro eo
factionibus et studiis : Abl. instrumenti oder eventuell ein Richtungs-Dativ i. S. v. ad factiones … (?)
duabus tribusve civitatibus … conventus : Dat. possessivus
singuli pugnant, universi vincuntur : die Adjektive sind jeweils prädikativ gebraucht
internoscas : cf. deprehendas Tac. Agr. 10
exurgere : [= exsurgere]
extrema et plana terrarum : Hendiadyoin „das Äußerste und Flache der Welt“ ~ „der flache Rand der Welt“
oriri sueta : suetus „gewohnt“ mit Objektsinfinitiv, wie auch im Dt. möglich
patiens frugum : patiens gewöhnlich mit Objektsgenitiv „fähig, Früchte zu tragen“
margarita : hier neutral v. margaritum
saxis : Abl. seperationis
avelli : immer noch von arbitrantur abhängig, also oratio obliqua
crediderim : potentialer Konjunktiv, abmildernd
ego facilius crediderim naturam margaritis deesse quam nobis avaritiam : das heißt im Umkehrschluss, dass die Römer aus Sicht des Tacitus zu habgierig sind
|
13. Frühere Expeditionen des Caesar und des Claudius |
[13] Ipsi Britanni dilectum ac tributa et iniuncta imperii munia impigre obeunt, si iniuriae absint: has aegre tolerant, iam domiti ut pareant, nondum ut serviant. Igitur primus omnium Romanorum divus Iulius cum exercitu Britanniam ingressus, quamquam prospera pugna terruerit incolas ac litore potitus sit, potest videri ostendisse posteris, non tradidisse. Mox bella civilia et in rem publicam versa principum arma, ac longa oblivio Britanniae etiam in pace: consilium id divus Augustus vocabat, Tiberius praeceptum. Agitasse Gaium Caesarem de intranda Britannia satis constat, ni velox ingenio mobili paenitentiae, et ingentes adversus Germaniam conatus frustra fuissent. Divus Claudius auctor iterati operis, transvectis legionibus auxiliisque et adsumpto in partem rerum Vespasiano, quod initium venturae mox fortunae fuit: domitae gentes, capti reges et monstratus fatis Vespasianus.
|
[13] Die Britannier selbst ertragen unverdrossen Aushebung, Steuern und auferlegte Pflichten des Reiches, sofern Unrecht fern ist: das nehmen sie nur widerwillig hin, schon so weit gebändigt, dass sie gehorchen, allerdings noch nicht so weit, dass sie wie Sklaven dienen. So hat der göttliche Julius, als erster aller Römer, mit seinem Heer Britannien betreten; obgleich er durch ein erfolgreiches Gefecht die Einwohner in Schrecken versetzte und sich der Küste bemächtigte, mag es scheinen, er habe Britannien der Nachwelt gezeigt, nicht übergeben. Darauf kamen die Bürgerkriege, die Waffen der Principes wurden gegen das Gemeinwesen gerichtet und auch im Frieden blieb Britannien lange in Vergessenheit. Kluge Berechnung nannte der göttliche Augustus dies, Vorschrift Tiberius. Dass Gaius Caesar mit dem Gedanken des Einmarsches in Britannien spielte, steht zur Genüge fest, wenn er dies durch seine wankelmütige Sinnesart nicht schnell bereut hätte und die gewaltigen Anstrengungen gegen Germanien nicht vergeblich gewesen wären. Der vergöttlichte Claudius veranlasste eine Wiederholung des Unternehmens: Legionen und Auxiliartruppen wurden übergesetzt und Vespasian zu einem Teil der Unternehmung hinzugezogen, was der Anfang seines bald kommenden Glücks war. Bezwungen wurden Völker, gefangen Könige und vom Schicksal gezeigt Vespasian.
| 14. Allmähliche Eroberung Britanniens |
[14] Consularium primus Aulus Plautius praepositus ac subinde Ostorius Scapula, uterque bello egregius: redactaque paulatim in formam provinciae proxima pars Britanniae, addita insuper veteranorum colonia. Quaedam civitates Cogidumno regi donatae (is ad nostram usque memoriam fidissimus mansit), vetere ac iam pridem recepta populi Romani consuetudine, ut haberet instrumenta servitutis et reges. Mox Didius Gallus parta a prioribus continuit, paucis admodum castellis in ulteriora promotis, per quae fama aucti officii quaereretur. Didium Veranius excepit, isque intra annum extinctus est. Suetonius hinc Paulinus biennio prosperas res habuit, subactis nationibus firmatisque praesidiis; quorum fiducia Monam insulam ut vires rebellibus ministrantem adgressus terga occasioni patefecit.
|
[14] Als erster Konsular wurde Aulus Plautius der Provinz vorgesetzt, danach Ostorius Scapula, beide hervorragende Generäle: und allmählich wurde der nächste Teil Britanniens in die Form der Provinz überführt, überdies eine Veteranenkolonie hinzugefügt. Einige Stämme wurden dem König Cogidumnus geschenkt (dieser blieb bis zu unserer Zeit der treueste Verbündete), nach alter und schon längst aufgenommener Sitte des römischen Volkes, um auch Könige als Werkzeuge der Knechtschaft zu haben. Bald hielt Didius Gallus das zusammen, was seine Vorgänger erworben hatten: Nur ganz wenige Kastelle weiter vorgeschoben, wodurch er Ruhm für erhöhte Amstleistung zu erreichen suchte. Veranius folgte Didius, und dieser wurde innerhalb eines Jahres getötet. Hierauf hatte Suetonius Paulinus zwei Jahre lang Glück, im Unterwerfen von Völkern und im Befestigen von Stützpunkten; im Vertrauen darauf griff er die Insel Mona an, weil sie den Widerspenstigen Verstärkung lieferte, und öffnete dem Feind so den Rücken für einen günstigen Angriff.
| 15. Entschluss zum Aufstand |
[15] Namque absentia legati remoto metu Britanni agitare inter se mala servitutis, conferre iniurias et interpretando accendere: nihil profici patientia, nisi ut graviora tamquam ex facili tolerantibus imperentur. Singulos sibi olim reges fuisse, nunc binos imponi, e quibus legatus in sanguinem, procurator in bona saeviret. Aeque discordiam praepositorum, aeque concordiam subiectis exitiosam. Alterius manus centuriones, alterius servos vim et contumelias miscere. Nihil iam cupiditati, nihil libidini exceptum. In proelio fortiorem esse, qui spoliet: nunc ab ignavis plerumque et imbellibus eripi domos, abstrahi liberos, iniungi dilectus, tamquam mori tantum pro patria nescientibus. Quantulum enim transisse militum, si sese Britanni numerent? Sic Germanias excussisse iugum: et flumine, non Oceano defendi. Sibi patriam coniuges parentes, illis avaritiam et luxuriam causas belli esse. Recessuros, ut divus Iulius recessisset, modo virtutem maiorum suorum aemularentur. Neve proelii unius aut alterius eventu pavescerent: plus impetus felicibus, maiorem constantiam penes miseros esse. Iam Britannorum etiam deos misereri, qui Romanum ducem absentem, qui relegatum in alia insula exercitum detinerent; iam ipsos, quod difficillimum fuerit, deliberare. Porro in eius modi consiliis periculosius esse deprehendi quam audere.
|
[15] Da durch die Abwesenheit des Statthalters die Furcht beseitigt war, debattierten die Britannier untereinander über die Übel der Knechtschaft, trugen Unrechte zusammen und vergrößerten sie durch ihre Deutung: Nichts werde durch Unterwürfigkeit erreicht, außer dass ihnen Schwereres aufgebürdet werde, als wenn sie es leicht ertrügen. Einst hätten sie einen einzigen König gehabt, jetzt seien ihnen zwei Männer vorgesetzt, von denen der Statthalter gegen Blut, der Prokurator gegen Eigentum wüte. Die Zwietracht der Vorgesetzten sei für die Unterworfenen ebenso verderblich wie deren Eintracht. Als Hände des Einen würden Zenturionen, als Hände des Anderen Sklaven eine Mischung aus Gewalt und Misshandlung erzeugen. Nichts sei mehr von ihrer Gier, nichts von ihrer Willkür ausgenommen. In der Schlacht sei der Stärkere derjenige, der raube. Jetzt würden ihre Häuser meistens von Feiglingen und Kriegsuntüchtigen geplündert, ihre Kinder weggeschleppt und Aushebungen aufgetragen, als wenn sie nur für ihre Heimat nicht zu sterben wüssten. Denn wie wenige römische Soldaten seien doch hinübergesetzt, wenn die Britannier sich selbst zählten? So habe Germanien das Joch abgeschüttelt. Und dies werde nur durch einen Fluss, nicht durch den Ozean geschützt. Sie hätten Heimat, Ehefrauen und Eltern, jene Habsucht und Zügellosigkeit als Kriegsgründe. Sie würden zurückweichen, wie sich der göttliche Julius einst zurückgezogen habe, wenn sie nur der Tapferkeit ihrer Vorfahren nacheifern würden. Und sie sollen sich nicht wegen des Ausgangs der einen oder anderen Schlacht ängstigen. Den Glückseligen sei mehr Gewalt, den Elenden größere Ausdauer. Jetzt hätten sogar die Götter Mitleid mit den Britanniern, da sie den römischen Führer abwesend, das Heer fortgeschickt auf einer anderen Insel festhielten; sie selbst würden – was äußerst schwer gewesen sei – sich untereinander beraten. Außerdem sei es bei derartigen Plänen gefährlicher, ertappt zu werden als zu wagen.
| 16. Aufstand der Britannier unter Boudicca; folgende Statthalter |
[16] His atque talibus in vicem instincti, Boudicca generis regii femina duce (neque enim sexum in imperiis discernunt) sumpsere universi bellum; ac sparsos per castella milites consectati, expugnatis praesidiis ipsam coloniam invasere ut sedem servitutis, nec ullum in barbaris saevitiae genus omisit ira et victoria. Quod nisi Paulinus cognito provinciae motu propere subvenisset, amissa Britannia foret; quam unius proelii fortuna veteri patientiae restituit, tenentibus arma plerisque, quos conscientia defectionis et proprius ex legato timor agitabat, ne quamquam egregius cetera adroganter in deditos et ut suae cuiusque iniuriae ultor durius consuleret. Missus igitur Petronius Turpilianus tamquam exorabilior et delictis hostium novus eoque paenitentiae mitior, compositis prioribus nihil ultra ausus Trebellio Maximo provinciam tradidit. Trebellius segnior et nullis castorum experimentis, comitate quadam curandi provinciam tenuit. Didicere iam barbari quoque ignoscere vitiis blandientibus, et interventus civilium armorum praebuit iustam segnitiae excusationem: sed discordia laboratum, cum adsuetus expeditionibus miles otio lasciviret. Trebellius, fuga ac latebris vitata exercitus ira, indecorus atque humilis precario mox praefuit, ac velut pacta exercitus licentia, ducis salute, [et] seditio sine sanguine stetit. Nec Vettius Bolanus, manentibus adhuc civilibus bellis, agitavit Britanniam disciplina: eadem inertia erga hostis, similis petulantia castrorum, nisi quod innocens Bolanus et nullis delictis invisus caritatem paraverat loco auctoritatis.
|
[16] Durch solche Sachen angestachelt, nahmen sie unter Führung von Boudicca, einer Frau königlicher Abstammung (denn sie unterscheiden bei der Herrschaft nicht zwischen den Geschlechtern) insgesamt den Krieg auf; und nachdem sie die über die Lager verstreuten Soldaten verfolgt hatten, drangen sie nach Eroberung der Stützpunkte in die Kolonie als den Sitz der Knechtschaft selbst ein, und Zorn und Sieg ließen bei den Barbaren keine Art der Grausamkeit aus. Wenn nun Paulinus, nachdem er vom Aufstand erfahren hatte, der Provinz nicht schleunigst zur Hilfe gekommen wäre, wäre Britannien verloren gewesen; der glückliche Ausgang einer einzigen Schlacht führte es wieder zur alten Unterwürfigkeit zurück, wobei aber die meisten ihre Waffen behielten; diese hielt das Bewusstsein ihres Abfalls und die persönliche Furcht vor dem Statthalter in Bann, dass er – obgleich im Übrigen vortrefflich – anmaßend gegen Unterworfene und als Rächer jedes an ihm verübten Unrechts hart vorgehe. Folglich wurde Petronius Turpilianus als gewissermaßen nachsichtigerer Mann geschickt, unerfahren im Umgang mit Vergehen von Feinden und daher milder für Reue; nachdem er die früheren Streitigkeiten ausgeräumt hatte, unternahm er darüber hinaus nichts weiteres und übergab die Provinz an Trebellius Maximus. Trebellius war ziemlich schwerfällig und hatte keine Lagererfahrung. Er hielt die Provinz mit einer gewissen Freundlichkeit im Verwalten zusammen. Sogar die Barbaren haben schon gelernt, die wohlbehagenden Laster zu verzeihen, und das Dazwischenkommen der Bürgerkriege bot eine triftige Entschuldigung der Trägheit: Aber man wurde von einer Meuterei geplagt, als die an Feldzüge gewöhnten Soldaten wegen ihrer Muße übermütig wurden. Trebellius, der dem Zorn des Heeres durch Flucht und Versteck entgangen war, führte den Oberbefehl, unrühmlich und schwach, bald nur noch auf Gnade; und mit der Ungebundenheit des Heeres wurde auch des Führers Heil ausbedungen: So endete die Meuterei ohne Blutvergießen. Auch Vettius Bolanus – denn die Bürgerkriege hielten bis jetzt an – verfuhr in Britannien nicht mit Züchtigung: Dieselbe Trägheit gegen die Feinde, ähnliche Leichtfertigkeit im Lager, abgesehen davon, dass Bolanus unschuldig und wegen keiner Vergehen verhasst Hochachtung statt Einfluss erworben hatte.
| 17. Weitere Progression der Eroberung Britanniens unter Vespasian |
[17] Sed ubi cum cetero orbe Vespasianus et Britanniam recuperavit, magni duces, egregii exercitus, minuta hostium spes. Et terrorem statim intulit Petilius Cerialis, Brigantum civitatem, quae numerosissima provinciae totius perhibetur, adgressus. Multa proelia, et aliquando non incruenta; magnamque Brigantum partem aut victoria amplexus est aut bello. Et Cerialis quidem alterius successoris curam famamque obruisset: subiit sustinuitque molem Iulius Frontinus, vir magnus, quantum licebat, validamque et pugnacem Silurum gentem armis subegit, super virtutem hostium locorum quoque difficultates eluctatus.
|
[17] Sobald Vespasian zusammen mit der übrigen Welt auch Britannien wiedererlangte, wurde die Hoffnung der Feinde unter der Präsenz großer Führer und außergewöhnlicher Heere gemindert. Und Petilius Cerialis brachte sofort Schrecken, indem er den Stamm der Briganter angriff, der für den größten der ganzen ganzen Provinz gehalten wird. Viele Schlachten, und bisweilen nicht blutlos; und einen großen Teil des Briganterreiches nahm entweder sein Sieg oder wenigstens sein Krieg ein. Und in der Tat hätte er die Verwaltung und den Ruhm eines jeden Nachfolgers in den Schatten gestellt: aber Julius Frontinus, ein großer Mann, soweit Größe erlaubt war, nahm die Last auf sich und trug sie, und unterwarf das starke und kriegerische Volk der Siluren militärisch, indem er neben der Tapferkeit der Feinde auch die Schwierigkeiten des Geländes überwand.
|
Anmerkungen und Hilfen
[13]
Iulius … ingressus : Participium coniunctum; [I]potest ist das Verb des HS
Gaium Caesarem : sc. Caligula
ni velox ingenio mobili paenitentiae : add. fuissent; fragwürdig ist paenitentiae, was entweder ein prädikativ gebrauchter, qualitativer Genitiv zu sein oder von velox abzuhängen scheint
iterati operis : nach Caesar zum zweiten Mal; iterati ist sog. dominantes Partizip
[14]
Consularium : gewöhnlich wurden ehemalige Konsuln (consulares) den Provinzen als Proprätoren vorangestellt
ut haberet instrumenta servitutis et reges : es macht keinen Sinn das et mit „und“ als Verbindung von instrumenta und reges zu übersetzen; es scheint hier, wie öfters bei Tacitus, „auch“ zu bedeuten; instrumenta ist dann prädikativ zu reges verstehen
parta a prioribus : a prioribus ist Abl. auctoris, nicht separationis; parta ist substantiviert
paucis admodum castellis in ulteriora promotis : Abl. absolutus, wobei dieser hier erneut nicht vorzeitig zu deuten ist, cf. Tac. Agr. 12: amissa virtute pariter ac libertate
per quae fama aucti officii quaereretur : finaler Relativsatz, daher Konjunktiv; aucti officii ist ein von fama abhängiger Gen. obiectivus; gemeint ist, dass Didius Gallus Ruhm zu erreichen suchte, indem er – über die Erfüllung seiner Amtspflicht hinaus – militär-politisch aktiv war
subactis nationibus firmatisque praesidiis; quorum fiducia : fiducia ist instrumentaler bzw. modaler Ablativ, quorum (Gen. obiectivus) bezieht sich auf subactis nationibus firmatisque praesidiis
Monam insulam ut vires rebellibus ministrantem : ut fügt einen prädikativen, kausal gefärbten, Ausdruck an, der auf Monam rekurriert
occasioni : Dat. finalis (?)
[15]
graviora : zeugmatisch mit tolerantibus (hier als Akk. gefordert) und imperentur verbunden
tamquam … tolerantibus : tamquam modifiziert hier das Participium (Dativobjekt zu imperentur) als hypothetisch-vergleichend oder kausal (fremde Ansicht)
ex facili : [= facile (Adv.)]
Singulos … reges : singulus in der Bedeutung „einzeln“ und „je einer“ wird üblicherweise nicht im Singular gebraucht
subiectis : Dat. commodi
cupiditati … libidini : m. A. auktoriale Dative und somit personifizierte, logische Subjekte
tamquam mori tantum pro patria nescientibus : Abl. absolutus; zu tamquam als Partizip-Modifikator s. oben tamquam … tolerantibus
Quantulum … militum : partitiver Genitiv
causas belli : prädikativ zu allen anderen Substantiven im Akkusativ
Recessuros : add. illos (sc. Romanos)
aemularentur : add. ipsi (sc. Britanni), der oblique – nicht irreale – Konjunktiv Impf. stellt Gleichzeitigkeit zu recessuros her, richtet sich im Tempus aber nach einem vorschwebenden putaverunt o. Ä.
penes miseros : dysparalleler Wechsel vom Dat. possessivus felicibus zu einem Präpositionalausdruck
qui Romanum ducem absentem, qui relegatum in alia insula exercitum detinerent : dem RS wird eine kausale Färbung unterstellt, die durch den obliquen Konjunktiv nicht sichtbar ist; detinere jeweils mit dopp. Akk. Romanum ducem absentem / exercitum relegatum
iam ipsos, quod difficillimum fuerit, deliberare : das quod difficillimum fuerit ist parenthetisch zu fassen und nicht als Objekt zu deliberare; die Parenthese stellt eine Rekursion auf Tac. Agr. 12 dar: Nec aliud adversus validissimas gentis pro nobis utilius, quam quod in commune non consulunt.
[16]
Quod nisi : "was das betrifft, wenn nicht" = "wenn nun nicht"
ut sedem servitutis : prädikativ auf coloniam; cf. Tac. Agr. 14
amissa … foret : [= amissa esset]
veteri patientiae : dürfte sich als seltener Richtungsdativ anstelle von in veterem patientiam erklären
timor agitabat, ne : der finale Objektsatz hängt von timor ab; daher ist ne auch gleich ut
egregius cetera : cetera ist limitativer Akkusativ (Acc. Graecus) „in Hinblick auf das Übrige“
deditos : substantivisch und reflexiv ei, qui se dederant
delictis hostium novus : delictis hängt als Dat. respectus o. Abl. limitationis von novus ab
paenitentiae : Dat. commodi; Abstractum pro Concreto (reuige Menschen)
compositis prioribus : Abl. absolutus; nimmt man componere als „beschwichtigen“, kann man das im Neutrum (Pl.) vorschwebende rebus („Angelgenheiten“) als controversiis fassen; nimmt man es als „in Ordnung bringen“, mag es hier „den früheren Zustand wiederherstellen“ heißen
nullis castorum experimentis : Abl. qualitatis
ignoscere vitiis blandientibus : vitiis blandientibus ist Dativobjekt zu ignoscere (im Dt. mit Akkusativ konstruiert); Tacitus könnte gemeint haben, dass die Britannier sogar ihre alten Ideale abgelegt hätten und sich nun auf die wohlbehagenden Laster (z. B. segnitia) der Römer einließen – und somit keine Gefahr mehr darstellten; eventuell könnte man die Worte auch sarkastisch auffassen und auf Trebellius beziehen: „diese Laster (Trägheit und Freundlichkeit) verziehen ihm die Britannier gern“ – weil sie dann in Frieden gelassen werden
discordia : Abl. instrumenti
laboratum : unpersönlich, add. est
fuga ac latebris vitata exercitus ira : Ablativus absolutus; das logische Subjekt ist Trebellius
indecorus atque humilis : prädikativ auf Trebellius
precario : Adverb; „auf Gnade (der Soldaten)“, d.h. er war als Kommandant geduldet, hatte aber keinen nennenswerten Einfluss mehr
praefuit : absolut „das Kommando führen“
ac velut pacta exercitus licentia, ducis salute : die exercitus licentia und die ducis salus sind gleichwertige Vertragsbestandteile (velut pacta)
castrorum : metonymisch für die Soldaten, die sich im Lager befinden
loco : „anstelle von“ (mit Genitiv)
auctoritatis : denn diese hätte er nur durch militär-politische Erfolge erlangen können
[17]
aut victoria amplexus est aut bello : aut … aut ungenau für aut … aut certe; victoria und bello sind beides instrumentale Ablative
vir magnus, quantum licebat : cf. die dieses Werk eröffnenen Worte des Tacitus, Tac. Agr. 1: At nunc narraturo mihi vitam defuncti hominis venia opus fuit, quam non petissem incusaturus: tam saeva et infesta virtutibus tempora.
eluctatus : deponenziales Partizip v. eluctari „sich aus etwas herauswinden“, wird hier transitiv gebraucht; eher von gleichzeitigem Charakter wie eben adgressus; bezogen auf Frontinus
|
|
|
|
|