Cicero - In Verrem II - liber quartus [Kap. 1-20] - Deutsche Übersetzung


In Verrem II - liber quartus - Kap. 1-20



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1. Kapitel


[1] Venio nunc ad istius, quem ad modum ipse appellat, studium, ut amici eius, morbum et insaniam, ut Siculi, latrocinium; ego quo nomine appellem nescio; rem vobis proponam, vos eam suo non nominis pondere penditote. Genus ipsum prius cognoscite, iudices; deinde fortasse non magno opere quaeretis quo id nomine appellandum putetis. Nego in Sicilia tota, tam locupleti, tam vetere provincia, tot oppidis, tot familiis tam copiosis, ullum argenteum vas, ullum Corinthium aut Deliacum fuisse, ullam gemmam aut margaritam, quicquam ex auro aut ebore factum, signum ullum aeneum, marmoreum, eburneum, nego ullam picturam neque in tabula neque in textili, quin conquisierit, inspexerit, quod placitum sit, abstulerit.



[1] Jetzt komme ich zu dessen Leidenschaft, wie er sie selbst nennt, zur Krankheit und zum Wahn, wie es seine Freunde, zur Räuberei, wie es die Sizilianer nennen; mit welchem Namen ich es bezeichnen soll, weiß ich nicht; ich werde euch die Angelegenheit vorstellen, ihr sollt sie nicht nach dem Gewicht ihres Namens beurteilen. Erkennt zuvor ihr Wesen, Richter; dann werdet ihr vermutlich nicht so sehr danach suchen, wie dies eurer Meinung nach zu betiteln sei. Ich sage, dass es auf ganz Sizilien, dieser so reichen, so alten Provinz, mit so vielen Städten, so vielen so wohlhabenden Familien, nicht irgendeine Vase, weder eine korinthische noch eine delische, nicht irgendeinen Edelstein oder irgendeine Perle, nicht irgendetwas aus Gold oder Elfenbein, weder eine bronzene noch eine marmorne noch eine elfenbeinerne Statue gegeben hat, ich sage, dass es nicht irgendein Bild, weder auf einem Gemälde noch auf einem Tuch, gegeben hat, was er nicht aufspürte, inspizierte und fortschaffte, wenn es ihm gefallen hat.


2. Kapitel


[2] Magnum videor dicere: attendite etiam, quem ad modum dicam. Non enim verbi neque criminis augendi causa complector omnia: cum dico nihil istum eius modi rerum in tota provincia reliquisse, Latine me scitote, non accusatorie loqui. Etiam planius: nihil in aedibus cuiusquam, ne in hospitis quidem, nihil in locis communibus, ne in fanis quidem, nihil apud Siculum, nihil apud civem Romanum, denique nihil istum, quod ad oculos animumque acciderit, neque privati neque publici neque profani neque sacri tota in Sicilia reliquisse.


[2] Ich scheine schwerwiegendes zu sagen: achtet auch darauf, wie ich es sagen werde. Denn ich trage das alles nämlich nicht vor, um die Rede zu verlängern oder das Verbrechen zu vergrößern: Indem ich sage, dass dieser da nichts von all solchen Sachen übriggelassen hat, sollt ihr wissen, dass ich auf Latein, und nicht in der Sprache eines Anklägers spreche. Noch deutlicher: nichts in irgendjemandes Haus, nicht einmal in den Gasthäusern, nichts auf öffentlichen Plätzen, nicht einmal in den Heiligtümern, nichts bei einem Sizilianer, nichts bei einem römischen Bürger, letztendlich hat dieser da auf ganz Sizilien nichts an Privatem, an Öffentlichem, an Unheiligem und an Heiligem übriggelassen, was ihm vor die Augen und in den Sinn kam.


3. Kapitel


[3] Unde igitur potius incipiam quam ab ea civitate, quae tibi una in amore atque in deliciis fuit? Aut ex quo potius numero quam ex ipsis laudatoribus tuis? Facilius enim perspicietur qualis apud eos fueris qui te oderunt, qui accusant, qui persequuntur, cum apud tuos Mamertinos inveniare improbissima ratione esse praedatus. C. Heius est Mamertinus – omnes hoc mihi qui Messanam accesserunt facile concedunt – omnibus rebus illa in civitate ornatissimus. Huius domus est vel optima Messanae, notissima quidem certe et nostris hominibus apertissima maximeque hospitalis. Ea domus ante istius adventum ornata sic fuit, ut urbi quoque esset ornamento; nam ipsa Messana, quae situ moenibus portuque ornata sit, ab his rebus, quibus iste delectatur, sane vacua atque nuda est.


[3] Wo sollte ich lieber anfangen als bei derjenigen Bürgerschaft, die als einzige deine Liebe und Zuneigung genoss? Oder bei welcher Gruppe lieber als bei deinen Lobrednern selbst? Man wird nämlich leichter durchschauen, wie du dich bei diesen benommen hast, die dich hassen, die dich anklagen, die dich gerichtlich verfolgen, wenn man über dich herausbekommen sollte, dass du bei den Mamertinern auf schändlichste Weise Beute gemacht hast. Gaius Heius ist ein Mamertiner – alle, die nach Messana gekommen sind, pflichten mir leicht darin bei – der in jener Bürgerschaft in jeder Hinsicht hochangesehen ist. Dessen Haus ist wohl das beste in Messana, unstreitig jedenfalls das bekannteste und für unsere Leute offenste und gastfreundlichste. Dieses Haus war vor dessen Ankunft derart schmuckvoll, dass es sogar der Stadt zur Zierde gereichte; denn Messana selbst, das zwar durch seine Lage, seine Stadtmauern und seinen Hafen geziert, ist nun doch gänzlich leer und entblößt von denjenigen Sachen, an denen sich dieser da erfreut.


4. Kapitel


[4] Erat apud Heium sacrarium magna cum dignitate in aedibus a maioribus traditum perantiquum, in quo signa pulcherrima quattuor summo artificio, summa nobilitate, quae non modo istum hominem ingeniosum et intellegentem, verum etiam quemvis nostrum, quos iste idiotas appellat, delectare possent, unum Cupidinis marmoreum Praxiteli; nimirum didici etiam, dum in istum inquiro, artificum nomina. Idem, opinor, artifex eiusdem modi Cupidinem fecit illum, qui est Thespiis, propter quem Thespiae visuntur; nam alia visendi causa nulla est. Atque ille L. Mummius, cum Thespiadas, quae ad aedem Felicitatis sunt, ceteraque profana ex illo oppido signa tolleret, hunc marmoreum Cupidinem, quod erat consecratus, non attigit.


[4] Bei Heius gab es im Haus ein uraltes Heiligtum, das mit großer Würde von den Vorfahren übergeben worden war, in welchem sich vier äußerst schöne Statuen von höchster Kunstfertigkeit und höchster Berühmtheit befanden, die nicht nur diesen kunstsinnigen und verständigen Menschen, sondern jeden von uns, die dieser da Laien nennt, zu erfreuen vermochten, darunter eine marmorne der Cupido des Praxiteles; natürlich habe ich auch die Namen der Künstler gelernt, während ich gegen diesen da ermittelte. Derselbe Künstler, so meine ich, schuf jenen solchen Cupido, der in Thespiae steht, wegen dessen man Thespiae besucht; denn einen anderen Grund Thespiae zu besuchen gibt es nicht. Sogar jener Lucius Mummius rührte, als er die Thespiaden, die beim Tempel der Felicitas standen, und die übrigen ungeweihten Statuen aus jener Stadt schaffte, diesen marmornen Cupido nicht an, weil er geweiht war.


5. Kapitel


[5] Verum ut ad illud sacrarium redeam, signum erat hoc quod dico Cupidinis e marmore, ex altera parte Hercules egregie factus ex aere. Is dicebatur esse Myronis, ut opinor, et certe. Item ante hos deos erant arulae, quae cuivis religionem sacrari significare possent. Erant aenea duo praeterea signa, non maxima verum eximia venustate, virginali habitu atque vestitu, quae manibus sublatis sacra quaedam more Atheniensium virginum reposita in capitibus sustinebant; Canephoroe ipsae vocabantur; sed earum artificem—quem? quemnam? recte admones—Polyclitum esse dicebant. Messanam ut quisque nostrum venerat, haec visere solebat; omnibus haec ad visendum patebant cotidie; domus erat non domino magis ornamento quam civitati.


[5] Doch um zu jenem Heiligtum zurückzukehren: Es gab dort diese Statue Cupidos, die, wie ich sage, aus Marmor ist, auf der anderen Seite stand Herkules, vortrefflich aus Erz gemeißelt. Man sagte, dieser sei von Myro, wie ich meine, und zwar sicher. Ferner befanden sich vor diesen Göttern kleine Altäre, die jedem die Heiligkeit dieser Stätte bezeigen konnten. Außerdem standen dort zwei bronzene Statuen, nicht die größten, aber von außerordentlichem Anmut, von jungfräulicher Gestalt und Kleidung. Nach Art athenischer Jungfrauen trugen diese Statuen mit erhobenen Händen gewisse Opfer auf dem Kopf; sie selbst werden Korbträgerinnen genannt; Aber als deren Künstler – wen? Wen nannten sie denn da? Du erinnerst mich richtig: Sie sagten, es sei Polyklet. Sowie ein jeder von uns nach Messana gekommen war, besichtigte er diese üblicherweise; diese waren täglich für alle zur Besichtigung zugänglich; das Haus gereichte dem Herrn ebenso zur Zierde wie der Stadt.


6. Kapitel


[6] C. Claudius, cuius aedilitatem magnificentissimam scimus fuisse, usus est hoc Cupidine tam diu dum forum dis immortalibus populoque Romano habuit ornatum, et, cum hospes esset Heiorum, Mamertini autem populi patronus, ut illis benignis usus est ad commodandum, sic ipse diligens fuit ad reportandum. Nuper homines nobilis eius modi, iudices,—sed quid dico 'nuper'? immo vero modo ac plane paulo ante vidimus, qui forum et basilicas non spoliis provinciarum, sed ornamentis amicorum, commodis hospitum, non furtis nocentium ornarent. Qui tamen signa atque ornamenta sua cuique reddebant, non ablata ex urbibus sociorum atque amicorum quadridui causa, per simulationem aedilitatis, domum deinde atque ad suas villas auferebant.


[6] Gaius Claudius, dessen Ädilität äußerst rühmlich gewesen ist, wie wir wissen, machte von diesem Cupido Gebrauch, solange er das Forum für die unsterblichen Götter und das römische Volk ausgeschmückt hatte, und weil er Gastfreund der Heier und Anwalt des mamertinischen Volkes war, waren jene so gütig, ihm die Statue zu verleihen, so er selbst für den deren Rücktransport sorgte. Vor Kurzem, Richter – aber was sage ich „vor Kurzem“? Nein: Gerade eben und in jüngster Zeit haben wir edle Männer dieser Art gesehen, die das Forum und die Säulenhallen nicht mit Raubstücken der Provinzen, sondern mit Schmuckstücken der Freunde, mit Leihgaben ihrer Gäste, nicht mit Diebstählen von Verbrechern zierten. Doch diese gaben die Statuen und Schmuckstücke jedem einzelnen zurück, sie schafften sie nicht unter dem Vorwand der Ädilität – angeblich nur für vier Tage – aus den Städten der Verbündeten und Freunde, um sie dann in ihr eigenes Haus und zu ihren eigenen Landgütern zu bringen.


7. Kapitel


[7] Haec omnia quae dixi signa, iudices, ab Heio e sacrario Verres abstulit; nullum, inquam, horum reliquit neque aliud ullum tamen praeter unum pervetus ligneum, Bonam Fortunam, ut opinor. Eam iste habere domi suae noluit. Pro deum hominumque fidem! quid hoc est? quae haec causa est, quae ista impudentia? Quae dico signa, antequam abs te sublata sunt, Messanam cum imperio nemo venit, quin viserit. Tot praetores, tot consules in Sicilia cum in pace tum etiam in bello fuerunt, tot homines cuiusque modi—non loquor de integris, innocentibus, religiosis —tot cupidi, tot improbi, tot audaces, quorum nemo sibi tam vehemens, tam potens, tam nobilis visus est, qui ex illo sacrario quicquam poscere aut tollere aut attingere auderet: Verres, quod ubique erit pulcherrimum, auferet? nihil habere cuiquam praeterea licebit? tot domus locupletissimas istius domus una capiet? Idcirco nemo superiorum attigit ut hic tolleret? ideo C. Claudius Pulcher rettulit, ut C. Verres posset auferre? At non requirebat ille Cupido lenonis domum ac meretriciam disciplinam; facile illo sacrario patrio continebatur; Heio se a maioribus relictum esse sciebat in hereditate sacrorum, non quaerebat meretricis heredem.


[7] All diese Bildnisse, die ich nannte, ihr Richter, raubte Verres dem Heius aus der Hauskapelle; keines von diesen, wie ich sagte, ließ er zurück – ja überhaupt nichts außer einem sehr alten Holzbildnis, einer „Bona Fortuna“, wie ich meine. Die wollte der da nicht in seinem Haus haben. Bei der Wahrhaftigkeit der Götter und Menschen! Was ist das? Was ist das für eine Sachlage, was ist das für eine Unverschämtheit? Bevor die Bildnisse, von denen ich spreche, von dir weggeschafft wurden, kam niemand mit Befehlsgewalt nach Messana, der diese nicht besichtigte. So viele Praetoren, so viele Konsuln gab es auf Sizilien, sowohl in Krieg als auch Frieden, so viele Menschen von jeder Art – ich rede nicht von straflosen, unschuldigen und gewissenhaften Leuten – so viele habgierige, so viele schurkische und so viele dreiste Gesellen, von denen sich niemand für so stark, so mächtig und so angesehen hielt, dass er es gewagt hätte, irgendetwas aus einem Heiligtum zu fordern, zu entfernen oder zu berühren: Wird Verres alles wegnehmen dürfen, was überall das schönste sein wird? Wird es niemandem mehr erlaubt sein, etwas zu besitzen? Wird einzig das Haus dessen da so viele wohlbestellte Häuser in sich fassen? Hat sie deshalb niemand seiner Vorgänger berührt, damit dieser sie davonschafft? Brachte Gaius Claudius Pulcher sie deswegen zurück, damit ein Gaius Verres sie forttragen konnte? Jener Cupido verlangte bestimmt nicht nach dem Haus dieses Verführers und seiner Buhldirnenschule; gern hielt er sich in jenem väterlichen Heiligtum auf; er wusste, dass er dem Heius von den Vorfahren in einer Erbschaft von Heiligtümern überlassen worden war, nicht suchte er nach dem Erben einer Buhldirne.


8. Kapitel


[8] Sed quid ego tam vehementer invehor? Verbo uno repellar. 'Emi,' inquit. Di immortales, praeclaram defensionem! Mercatorem in provinciam cum imperio ac securibus misimus, omnia qui signa, tabulas pictas, omne argentum, aurum, ebur, gemmas coemeret, nihil cuiquam relinqueret! Haec enim mihi ad omnia defensio patefieri videtur, emisse. Primum, si id quod vis tibi ego concedam, ut emeris,—quoniam in toto hoc genere hac una defensione usurus es,— quaero, cuius modi tu iudicia Romae putaris esse, si tibi hoc quemquam concessurum putasti, te in praetura atque imperio tot res tam pretiosas, omnis denique res quae alicuius preti fuerint, tota ex provincia coemisse?


[8] Aber warum greife ich so heftig an? Ich werde durch ein einziges Wort zurückgestoßen. „Ich habe sie gekauft“, sagt er. Bei den unsterblichen Göttern, welch‘ vortreffliche Verteidigung! Wir haben mit öffentlichem Auftrag und Liktoren einen Händler in die Provinz geschickt, der alle Statuen, Bilder, alles Silber, Gold, Elfenbein und alle Edelsteine kaufen und niemandem irgendetwas zurücklassen sollte. Mir scheint diese Verteidigung nämlich für alles geöffnet zu werden. Er habe ja auch gekauft. Wenn ich dir zunächst das, was du willst, zugestehe, nämlich dass du gekauft hast – weil du ja im Begriffe bist, bei dieser ganzen Klasse von Anschuldigungen nur diese eine Verteidigung zu benutzen – frage ich, von welcher Art die Gerichte in Rom deinem Glauben nach sind, wenn du geglaubt hast, dass dir irgendjemand dies gestatten würde, dass du während deiner Prätur und Herrschaft so viele so wertvolle Dinge – kurzum: alles aus der ganzen Provinz, was von irgendeinem Wert war, zusammengekauft habest?


9. Kapitel


[9] Videte maiorum diligentiam, qui nihildum etiam istius modi suspicabantur, verum tamen ea, quae parvis in rebus accidere poterant, providebant. Neminem, qui cum potestate aut legatione in provinciam esset profectus tam amentem fore putaverunt, ut emeret argentum, dabatur enim de publico; ut vestem, praebebatur enim legibus; mancipium putarunt, quo et omnes utimur et non praebetur a populo: sanxerunt ne quis emeret nisi in demortui locum. Si qui Romae esset demortuus? immo, si quis ibidem; non enim te instruere domum tuam voluerunt in provincia, sed illum usum provinciae supplere.


[9] Seht euch die Sorgfalt unserer Vorfahren an, die noch nichts derartiges ahnten, aber dennoch für das, was in unbedeutenderen Angelegenheiten geschehen konnte, Sicherheitsvorkehrungen trafen. Niemand, der mit Befehlsgewalt und Gesandtschaft in eine Provinz aufgebrochen sei, dachten sie, werde so wahnsinnig sein, Silber zu kaufen, denn das wurde ihm Staatskosten gegeben; oder Kleidung, denn das wurde ihm per Gesetzt gewährt; sie glaubten, er würde einen Sklaven kaufen, den wir zwar alle benutzen, der aber nicht vom Volk gegeben wird: Sie verordneten, dass niemand einen Sklaven kaufen dürfe, außer um einen Verstorbenen zu ersetzen. Wenn irgendjemand in Rom verstorben wäre? Nein, wenn irgendwer ebendort gestorben wäre; denn sie wollten nicht, dass du dein Haus in der Provinz austattest, sondern jenes Nötige der Provinz wieder ersetzt.


10. Kapitel


[10] Quae fuit causa cur tam diligenter nos in provinciis ab emptionibus removerent? Haec, iudices, quod putabant ereptionem esse, non emptionem, cum venditori suo arbitratu vendere non liceret. In provinciis intellegebant, si is, qui esset cum imperio ac potestate, quod apud quemque esset, emere vellet, idque ei liceret, fore uti quod quisque vellet, sive esset venale sive non esset, quanti vellet, auferret. Dicet aliquis: 'Noli isto modo agere cum Verre, noli eius facta ad antiquae religionis rationem exquirere; concede, ut impune emerit, modo ut bona ratione emerit, nihil pro potestate, nihil ab invito, nihil per iniuriam.' Sic agam: si, quod venale habuit Heius, id, quanti aestimabat, tanti vendidit, desino quaerere, cur emeris.


[10] Was war der Grund, dass sie uns so beharrlich von Käufen innerhalb der Provinzen entfernten? Weil sie der Meinung waren, ihr Richter, dass dies Raub, nicht Kauf sei, wenn dem Verkäufer nicht erlaubt werde, nach seinem Ermessen und Belieben zu verkaufen. Sie wussten, wenn ein Inhaber von Militär- und Zivilgewalt in den Provinzen irgendetwas kaufen wolle, was in jemandes Besitz sei, und ihm dies erlaubt sei, werde es so sein, dass ein jeder das, was er wolle, zu dem Preis bekommen würde, den er wolle, sei es nun verkäuflich oder nicht. Irgendwer wird sagen: „Verfahre nicht auf diese Weise mit Verres, untersuche dessen Taten nicht nach dem Maßstab eines alten Pflichtbewusstseins; räum‘ ein, dass er ungestraft gekauft habe, wenn er nur auf faire Weise, nichts vermöge seiner Amtsgewalt, nichts gegen jemandes Willen, nichts durch Begehen eines Unrechts gekauft habe.“ Ich werde so verfahren: Wenn Heius das, was er feilbot, für so viel verkaufte, wie viel er dafür veranschlagte, höre ich auf zu fragen, warum du es gekauft hast.


11. Kapitel


[11] Quid igitur nobis faciendum est? num argumentis utendum in re eius modi? quaerendum, credo, est Heius iste num aes alienum habuerit, num auctionem fecerit; si fecit, num tanta difficultas eum rei nummariae tenuerit, tanta egestas, tanta vis presserit, ut sacrarium suum spoliaret, ut deos patrios venderet. At hominem video auctionem fecisse nullam, vendidisse praeter fructus suos nihil umquam, non modo in aere alieno nullo, sed in suis nummis multis esse et semper fuisse; si haec contra ac dico essent omnia, tamen illum haec, quae tot annos in familia sacrarioque maiorum fuissent, venditurum non fuisse. 'Quid, si magnitudine pecuniae persuasum est?' Veri simile non est, ut ille homo tam locuples, tam honestus, religioni suae monumentisque maiorum pecuniam anteponeret.


[11] Was müssen wir also machen? Müssen wir bei einer derartigen Angelegenheit etwa wirklich Beweismittel benutzen? Ich glaube, es ist zu fragen, ob dieser Heius Schulden hatte, ob er eine Auktion veranstaltet hat; wenn er eine gemacht, ob ihn eine so große Geldnot ergriffen, eine so große Armut, ein so großer Zwang erdrückt hat, dass er seine Hauskapelle beraubte und die väterlichen Götter verkaufte. Aber ich sehe, dass dieser Mann keine Auktion veranstaltet hat, außer seinen Erträgen niemals etwas verkauft hat, nicht nur keine Schulden, sondern Geld im Überfluss hat und immer gehabt hat; wenn all diese Dinge anders wären als ich sage, hätte jener dennoch nicht das verkauft, was sich so viele Jahre in seiner Familie und der Hauskapelle seiner Vorfahren befunden hatte. „Was ist, wenn er durch die Größe der Geldsumme überzeugt worden ist?“ Es ist unwahrscheinlich, dass jener so begüterte, so ehrenvolle Mann Geld seiner religiösen Gesinnung und den Monumenten seiner Vorfahren vorgezogen hätte.


12. Kapitel


[12] 'sunt ista; verum tamen abducuntur homines non numquam etiam ab institutis suis magnitudine pecuniae.' Videamus, quanta ista pecunia fuerit, quae potuerit Heium, hominem maxime locupletem, minime avarum, ab humanitate, a pietate, ab religione deducere. Ita iussisti, opinor, ipsum in tabulas referre: 'haec omnia signa Praxiteli, Myronis, Polycliti HS sex milibus quingentis Verri vendita.' Sic rettulit. Recita, ex tabulis! Iuvat me haec praeclara nomina artificum, quae isti ad caelum ferunt, Verris aestimatione sic concidisse. Cupidinem Praxiteli HS MDC! Profecto hinc natum est, 'malo emere quam rogare.'


[12] „Das könnte so sein; aber dennoch werden Menschen manchmal durch einen großen Geldbetrag auch von ihren Grundsätzen abgebracht.“ Lasst uns sehen, wie hoch dieser Geldbetrag gewesen ist, der Heius, einen höchst wohlbestellten, keineswegs habgierigen Mann, von Anstand, Pflichtbewusstsein und Religion abbringen konnte. So hast du, wie ich meine, ihm selbst befohlen, er solle den Verkauf auf eine Rechnung schreiben: „All diese Bildnisse des Praxitelis, des Myro und des Polyklet wurden dem Verres für 6500 Sesterzen verkauft.“ So notierte Heius dies. Lies vor, aus der Rechnung! Es freut mich, dass diese höchst glänzenden Künstlernamen, die diese da zum Himmel heben, durch Verres‘ Taxierung so stark im Preis gesunken sind. Ein Cupido des Praxitelis für 1600 Sesterzen! In der Tat stammt daher das Sprichwort: „Ich kaufe lieber als zu fragen.“


13. Kapitel


[13] Dicet aliquis: 'Quid? Tu ista permagno aestimas?' Ego vero ad meam rationem usumque meum non aestimo; verum tamen a vobis ita arbitror spectari oportere, quanti haec eorum iudicio, qui studiosi sunt harum rerum, aestimentur, quanti venire soleant, quanti haec ipsa, si palam libereque venirent, venire possent, denique ipse Verres quanti aestimet. Numquam enim, si denariis cccc Cupidinem illum putasset, commisisset, ut propter eum in sermonem hominum atque in tantam vituperationem veniret.


[13] Irgendwer wird sagen: „Wie? Du hältst diese Statuen für sehr wertvoll?“ Aber ich taxiere sie nicht nach meiner Berechnung und meinem Bedürfnis; doch aber glaube ich, dass ihr berücksichtigen müsst, zu welchem Preis diese Statuen nach Meinung der Fachleute veranschlagt werden, zu welchem Preis sie üblicherweise verkauft werden, für wie viel sie auf verkauft werden könnten, wenn sie offen und frei verkauft würde, zu welchem Preis Verres selbst sie veranschlagt. Denn hätte er geglaubt, jener Cupido wäre 400 Denare wert, hätte er es niemals dahin kommen lassen, wegen diesem ins Gerede der Leute und in so große Kritik zu geraten.


14. Kapitel


[14] Quis vestrum igitur nescit, quanti haec aestimentur? In auctione signum aeneum non maximum HS XL venire non vidimus? Quid, si velim nominare homines, qui aut non minoris aut etiam pluris emerint, nonne possum? Etenim qui modus est in his rebus cupiditatis, idem est aestimationis; difficile est finem facere pretio, nisi libidini feceris. Video igitur Heium neque voluntate neque difficultate aliqua temporis nec magnitudine pecuniae adductum esse, ut haec signa venderet, teque ista simulatione emptionis vi, metu, imperio, fascibus ab homine eo, quem, una cum ceteris sociis, non solum potestati tuae sed etiam fidei populus Romanus commiserat, eripuisse atque abstulisse.


[14] Wer von euch also weiß nicht, zu welch großem Preis man diese veranschlagt? Haben wir nicht in einer Auktion gesehen, dass eine bronzene Figur, die nicht gerade die größte war, für 40.000 Sesterzen verkauft wurde? Was wäre, wenn ich Menschen nennen wollte, die derartige Statuen entweder für das gleiche oder sogar noch mehr Geld gekauft haben, kann ich es etwa nicht? In diesen Sachen ist nämlich das Maß der Gier gleichzeitig das Maß der Wertbestimmung; es ist schwierig, dem Preis eine Grenze zu setzen, es sei denn, man man könnte seiner Begierde eine setzen. Sonach sehe ich, dass Heius weder durch seinen freien Willen noch durch schwere Zeiten noch durch die Größe des Geldbetrages dazu veranlasst wurde, diese Statuen zu verkaufen, und dass du ebendiese Statuen durch das Vortäuschen eines Kaufs, durch Gewalt, durch Furcht, mittels deiner Befehlsgewalt und deiner politischen Stellung diesem Menschen, den das römische Volk, samt der übrigen Bundesgenossen, nicht nur deiner politischen Macht, sondern auch deiner Obhut anvertraut hatte, entrissen und geraubt hast.


15. Kapitel


[15] Quid mihi tam optandum, iudices, potest esse in hoc crimine, quam ut haec eadem dicat ipse Heius? Nihil profecto; sed ne difficilia optemus. Heius est Mamertinus; Mamertina civitas istum publice communi consilio sola laudat; omnibus iste ceteris Siculis odio est, ab his solis amatur; eius autem legationis, quae ad istum laudandum missa est, princeps est Heius--etenim est primus civitatis: ne forte, dum publicis mandatis serviat, de privatis iniuriis reticeat.


[15] Was, ihr Richter, kann für mich bei diesem Verbrechen so wünschenswert sein, wie dass Heius persönlich ebendiese Dinge sagt? Nichts in der Tat; aber lasst uns nichts Schwieriges wünschen. Heius ist Mamertiner; die mamertinische Bürgerschaft allein lobt diesen Mann auf gemeinsamen Beschluss hin im Namen ihrer Stadt; allen anderen Sizilianern ist er verhasst, von diesen allein wird er geliebt; aber der erste Mann dieser Gesandtschaft, die geschickt wurde, um diesen zu loben, ist Heius – er ist in der Tat der erste Mann dieser Bürgerschaft: Es besteht die Gefahr, dass er zufällig über die privaten Unrechte schweigt, um sich öffentlichen Aufträgen widmen zu können.


16. Kapitel


[16] Haec cum scirem et cogitarem, commisi tamen, iudices, Heio; produxi prima actione, neque id tamen ullo periculo feci. Quid enim poterat Heius respondere, si esset improbus, si sui dissimilis? Esse illa signa domi suae, non esse apud Verrem? Qui poterat quicquam eius modi dicere? Ut homo turpissimus esset impudentissimeque mentiretur, hoc diceret, illa se habuisse venalia, eaque sese, quanti voluerit, vendidisse. Homo domi suae nobilissimus, qui vos de religione sua ac dignitate vere existimare maxime vellet, primo dixit se istum publice laudare, quod sibi ita mandatum esset; deinde neque se habuisse illa venalia neque ulla condicione, si utrum vellet liceret, adduci umquam potuisse, ut venderet illa, quae in sacrario fuissent, a maioribus suis relicta et tradita.


[16] Obwohl ich dies wusste und so dachte, vertraute ich, ihr Richter, die Sache dennoch Heius an; ich ließ ihn in der ersten Verhandlung als Zeugen vorführen, und das ohne irgendeine Gefahr. Denn was hätte Heius antworten können, wenn er frevelhaft, wenn er seiner ungleichartig gewesen wäre? Dass jene Statuen in seinem Haus seien, nicht bei Verres? Wie hätte er irgendetwas derartiges sagen können? Auch wenn er der schändlichste Mann gewesen wäre und höchst unverschämt gelogen hätte, hätte er dennoch sagen können, er habe jene zum Verkauf gehabt und sie zu dem Preis verkauft, den er wollte. Der angesehenste Mann seiner Heimatstadt, der ja wollte, dass ihr ihn aufgrund seiner Gewissenhaftigkeit und seinem Ansehen wahrhaft in höchstem Grade schätzt, sagte zuerst, dass er diesen da öffentlich lobte, weil es ihm so aufgetragen worden sei; zweitens habe er jene Statuen weder zum Verkauf gehabt noch hätte er jemals durch irgendeinen Umstand – hätte man ihm die Wahl gelassen – dazu veranlasst werden können, jene Statuen zu verkaufen, die sich in seiner Hauskapelle befanden und von seinen Vorfahren zurückgelassen und übergeben worden waren.


17. Kapitel


[17] Quid sedes, Verres? Quid exspectas? Quid te a Centuripina civitate, a Catinensi, ab Halaesina, a Tyndaritana, Hennensi, Agyrinensi ceterisque Siciliae civitatibus circumveniri atque opprimi dicis? Tua te altera patria, quem ad modum dicere solebas, Messana circumvenit, - tua, inquam, Messana, tuorum adiutrix scelerum, libidinum testis, praedarum ac furtorum receptrix. Adest enim vir amplissimus eius civitatis legatus huius iudici causa domo missus, princeps laudationis tuae, qui te publice laudat, - ita enim mandatum atque imperatum est; tametsi, rogatus de cybaea, tenetis memoria, quid responderit: aedificatam publicis operis publice coactis, eique aedificandae publice Mamertinum senatorem praefuisse. Idem ad vos privatim, iudices, confugit; utitur hac lege, qua iudicium est, communi arce sociorum. Tametsi lex est de pecuniis repetundis, ille se negat pecuniam repetere, quam ereptam non tanto opere desiderat: sacra se maiorum suorum repetere abs te dicit, deos penatis te patrios reposcit.


[17] Was sitzt du hier, Verres? Was erwartest du? Was sagst du dazu, dass du von der kenturipinischen Gemeinde, von der katinensischen, von der halesinischen, von der tyndaritanischen, von der hennensischen, von der agyrinensischen und den übrigen Gemeinden Siziliens umzingelt und überwältigt wirst? Deine zweite Heimat, wie du sie zu nennen pflegtest, Messana, hat dich umzingelt, - dein eigenes Messana, wie ich sage, die Helferin deiner Verbrechen, die Zeugin deiner Gelüste, die Hehlerin deiner Beute und Diebstähle. Denn hier ist der angesehenste Mann dieser Bürgerschaft, der als Legat von seiner Heimat um dieser Gerichtsverhandlung willen entsandt worden ist, dein Hauptlobredner, der dich auf Befehl seiner Stadt preist, - so nämlich wurde es ihm aufgetragen und befohlen; Obgleich ihr euch daran erinnert, was er antwortete, nachdem er über das Transportschiff gefragt worden war: dass es durch öffentliche, auf Befehl der Stadt versammelte Arbeiter gebaut worden war, und dass dem Schiffsbau ein mamertinischer Senator per offiziellem Auftrag vorgestanden hatte. Derselbe floh als Privatmann zu euch, ihr Richter; er gebrauchte dasjenige Gesetz, die gemeinsame Festung unserer Verbündeten, durch welches diese Gerichtsverhandlung stattfindet. Obgleich es ein Gesetz über die Rückerstattung erpresster Gelder gibt, sagt jener, er fordere kein Geld, welches er, auch wenn es ihm geraubt wurde, nicht so sehr vermisst: allerdings fordere er die Heiligtümer seiner Vorfahren von dir zurück, sagt er, er will die väterlichen Hausgötter von dir zurückhaben.


18. Kapitel


[18] Ecqui pudor est, ecquae religio, Verres, ecqui metus? Habitasti apud Heium Messanae, res illum divinas apud eos deos in suo sacrario prope cotidiano facere vidisti; non movetur pecunia, denique, quae ornamenti causa fuerunt, non requirit; tibi habe Canephoros, deorum simulacra restitue. Quae quia dixit, quia tempore dato modeste apud vos socius amicusque populi Romani questus est, quia religioni suae non modo in dis patriis repetendis sed etiam in ipso testimonio ac iure iurando proximus fuit, hominem missum ab isto scitote esse Messanam de legatis unum, - illum ipsum, qui navi istius aedificandae publice praefuit, - qui a senatu peteret, ut Heius adficeretur ignominia.


[18] Hast du, Verres, wohl irgendeine Schame, irgendeine Frömmigkeit, irgendeine Ehrfurcht? Du hast dich in der Nähe von Heius, in Messana, aufgehalten, hast jenen gesehen, wie er Gottesdienste bei diesen Göttern in seiner Hauskapelle fast täglich abgehalten hat; durch Geld wird er nicht beeinflusst, ja nicht mal das will er zurück, was zum Schmucke war; „behalt die Korbträgerinnen für dich, gib die Götterstatuen zurück!“ Weil er dies sagte, weil er, sobald sich die Gelegenheit geboten hatte, als Verbündeter und Freund des römischen Volkes, mäßig bei euch Klage führte, weil er sich nicht nur bei Rückforderung der häuslichen Götter, sondern selbst auch bei der Zeugenaussage und beim Schwur streng seiner Gewissenhaftigkeit folgte, sollt ihr wissen, dass ein Mann der Gesandtschaft von diesem da zurück nach Messana geschickt worden ist – es war ebenjener, der auf Staatskosten dem Bau des Schiffes dessen da vorstand – um beim Senat zu ersuchen, Heius mit Schimpf zu brandmarken.


19. Kapitel


[19] Homo amentissime, quid putasti? Impetraturum te? Quanti is a civibus suis fieret, quanti auctoritas eius haberetur, ignorabas? Verum fac te impetravisse, fac aliquid gravius in Heium statuisse Mamertinos: quantam putas auctoritatem laudationis eorum futuram, si in eum, quem constet verum pro testimonio dixisse, poenam constituerint? Tametsi quae est ista laudatio, cum laudator interrogatus laedat necesse est? Quid? Isti laudatores tui nonne testes mei sunt? Heius est laudator: laesit gravissime. Producam ceteros: reticebunt, quae poterunt, libenter, dicent, quae necesse erit, ingratiis. Negent isti onerariam navem maximam aedificatam esse Messanae? Negent, si possunt. Negent ei navi faciundae senatorem Mamertinum publice praefuisse? Utinam negent! Sunt etiam cetera; quae malo integra reservare, ut quam minimum dem illis temporis ad meditandum confirmandumque periurium.


[19] Du wahnsinnigster Mensch, was hast du dir dabei gedacht? Dass du damit durchkommen wirst? Wusstest du nicht, wie hoch er von seinen Mitbürgern geschätzt wurde, wie viel dessen Ansehen galt? Aber nehmen wir mal an, du wärest damit durchgekommen, die Mamertiner hätten irgendetwas schwerwiegendes gegen Heius beschlossen: wie groß glaubst du, wird die Glaubwürdigkeit der Lobrede dieser sein, wenn sie gegen denjenigen, vom dem feststeht, dass er im Zeugenverhör die Wahrheit gesagt hat, eine Strafe beschlossen haben? Was ist das jedoch für eine Lobrede, wenn der Lobredner, nachdem er gefragt worden ist, dir schaden muss? Wie? Diese deinigen Lobredner sind etwa nicht meine Zeugen? Heius ist ein Lobredner: er hat dich schwerst getroffen. Die übrigen werde ich vorführen: gern werden sie verschweigen, was sie verschweigen können, ungern werden sie sagen, was sie sagen müssen. Sollen sie leugnen, dass ein äußerst großes Lastschiff in Messana gebaut worden ist? Mögen sie es leugnen, wenn sie können. Sollen sie leugnen, dass diesem Schiffsbau ein mamertinischer Senator auf Staatskosten vorgestanden hat? Mögen sie es doch leugnen! Es gibt noch weitere Dinge; diese will ich derzeit lieber unerwähnt lassen, um jenen so wenig Zeit wie möglich zum Überlegen und zum Vortragen ihres Meineides zu geben.


20. Kapitel


[20] Haec tibi laudatio procedat in numerum: hi te homines auctoritate sua sublevent: qui te neque debent adiuvare, si possint, neque possunt, si velint; quibus tu privatim iniurias plurimas contumeliasque imposuisti, quo in oppido multas familias totas in perpetuum infamis tuis stupris flagitiisque fecisti. At publice commodasti. Non sine magno quidem rei publicae provinciaeque Siciliae detrimento. Tritici modium LX empta populo Romano dare debebant et solebant: abs te solo remissum est. Res publica detrimentum fecit, quod per te imperi ius in una civitate imminutum est: Siculi, quod ipsum non de summa frumenti detractum est, sed translatum in Centuripinos et Halaesinos, immunis populos, et hoc plus impositum, quam ferre possent.


[20] Möge diese Lobrede glücklich für dich von statten gehen: Mögen dich diese Menschen mit ihrer Authentizität entlasten: Menschen, die dir weder helfen müssen, wenn sie es könnten, noch können, wenn sie es wollten; Menschen, denen du privat äußerst viel Unrecht und Schmach angetan hast, eine Stadt, in der du viele Familien durch deine Schändungen und Schandtaten völlig und auf alle Zeit entehrt hast. Aber du hast ja in öffentlichem Interesse gehandelt. Allerdings mit großem Schaden für das Gemeinwesen und die Provinz Sizilien. Die Mamertiner mussten dem römischen Volk 60.000 Scheffel Weizen gegen Bezahlung entrichten und taten das auch für gewöhnlich: Du allein hast ihnen die Lieferung erlassen. Das Gemeinwesen hat Schaden genommen, weil durch dich das Herrschaftsrecht in einer Stadt beeinträchtigt wurde: Die Sizilianer haben Schaden genommen, weil ebendiese 60.000 Scheffel nicht von der Summe des Getreides abgezogen, sondern auf die Centuripiner und Halesiner - abgabenfreie Gemeinden - übertragen worden sind, und ihnen dadurch mehr auferlegt worden ist, als sie hätten darbringen können.




Anmerkungen und Hilfen



[1]

conquisierit : zusammengezogenes Perfekt aus conquisiverit


[3]

Unde igitur potius incipiam quam ab ea civitate quae tibi una in amore atque in deliciis fuit? Aut ex quo potius numero quam ex ipsis laudatoribus tuis? : incipiam, hier wohl dubitativ und zugleich rhetorisch aufzufassen, steht mit separativem Ablativ (Ablativ des Ausgangspunktes); dadurch erklären sich unde , ab ea civitate, ex quo numero und ex ipsis laudatoribus . Der Deutsche fragt bei Verben des Beginnens mit „wo?“.

quae situ moenibus portuque ornata sit : konzessiv gefärbter Relativsatz


[5]

Canephoros, i, f. : von griech. κανηφόρος, die Korbträgerin; Plural κανηφόροι, daher die latinisierte Form „oe“.

sed earum artificem—quem? quemnam? recte admones—Polyclitum esse dicebant. : Der erste Teil sed…quemnam? ist von dicebant abhängig. Dadurch erklären sich die Akkusative entweder als doppelte Akkusative oder aufgrund einer durch einen AcI induzierten relative Verschränkung (esse ausgelassen). Der Sinn ist demnach: Sed quem dicebant earum artificem? Quemnam? Recte admones – Polyclitum esse artificem earum dicebant.
Das recte admones setzt den Zuruf eines Zuschauers voraus; gehalten wurde diese Rede gleichwohl nie.

domus erat non domino magis ornamento quam civitati : sog. doppelter Dativ; domino und civitati sind Dativi commodi, ornamento ist Dativus finalis.


[6]

ut illis benignis usus est ad commodandum, sic ipse diligens fuit ad reportandum : Dieser Teil lässt sich schwer wörtlich in die Textstruktur einbetten: so wie er jene (sc. Mamertinos ac Heios) als wohlwollende (benignis prädikativ) zum Verleihen (sc. Cupidinem) genoss, so sorgte er selbst für das Zurückbringen (sc. Cupidinem).

modo : zeitlich „gerade eben“

homines eius modi […], qui […] ornarent: konsekutiver Relativsatz: „Männer so edel, dass sie…“

ablata : Akk. Pl. Neutr. bezieht sich auf die ornamenta und signa.

quadridui causa, per simulationem aedilitatis : Die beiden Ausdrücke sind im Grunde genommen deckungsgleich (causa ist Ablativ) und meinen so viel wie „unter dem Vorgeben / Vorwand von vier Tagen bzw. der Ädilität“. Gemeint ist wohl eine Ausstellung der Kunstwerke an den von Ädilen organisierten Spielen.


[7]

ligneum : add. signum

Quae dico signa, antequam […] : das signa steht etwas unpässlich und sperrt Relativ- und Temporalsatz voneinander, wobei es doch das Subjekt des Temporalsatzes ist.

qui ex illo sacrario quicquam poscere aut tollere aut attingere auderet : konsekutiver Nebensinn

nihil habere cuiquam praeterea licebit : Vgl. zu diesen zwei Negationen, die sich nicht aufheben, das englische „I don’t have no time“.

superiorum : superior hier in der zeitlichen Bedeutung „der frühere“.

continebatur : hier medial „sich aufhalten“


[8]

Mercatorem in provinciam ... : mit dem Händler, den wir - d.h. die res publica bzw. Senatoren - entsendet haben, ist natürlich Verres gemeint

securibus : hohen römischen Magistraten wurden lictores (Liktoren) als „Bodyguards“ mitgegeben. Diese trugen – als Zeichen der Herrschergwalt – fasces (Rutenbündel) aus denen ein securis (Beil) herausragte; demnach ist securibus metonymisch aufzufassen und steht für die Liktoren bzw. die durch deren Beile implizierte Herrschergewalt.

putaris : synkopiert aus putaveris

quaero, cuius modi tu iudicia Romae putaris esse : relativische Verschränkung

hoc quemquam concessurum putasti, te in praetura atque imperio tot res tam pretiosas : Der indirekt von concessurum abhängige AcI fungiert als Explikativsatz zu hoc.

mercatorem […] misimus, omnia qui signa […] coemeret, nihil cuiquam relinqueret : der Konjunktiv durch den finalen Nebenbegriff [ut is…] des Relativsatzes.


[9]

esset profectus : Der Konjunktiv Plusquamperfekt steht hier als Ersatz für den Konjunktiv des Futur II, der hier ob der indirekten Rede und der Vorzeitigkeit zu fore benötigt würde.

de publico : „von dem Öffentlichen her“ meint „auf Staatskosten“


[10]

quanti vellet : Genitivus pretii „für wie viel er (es) wolle“; „wie teuer er (es haben) wolle“.

eius facta ad antiquae religionis rationem exquirere : ratio hier in der Bedeutung „Rücksicht“ oder „Maßstab“; also „dessen Taten mit Rücksicht auf eine alte Denkweise untersuchen“.

modo ut : restriktiver Konditionalsatz „gesetzt nur, dass“ oder „wenn nur“.

quanti aestimabat tanti vendidit : gewöhnlich steht die Angabe des Preises (für wie viel?) im Ablativ, bei Vergleichen – wie hier – allerdings auch im Genitivus pretii.


[11]

difficultas rei nummariae : „die Schwierigkeit, Not des Geldes“ = „Geldnot, Geldmangel”

si haec contra ac dico essent omnia, tamen illum haec, quae tot annos in familia sacrarioque maiorum fuissent, venditurum non fuisse. : Der Folgerungssatz der konditionalen Periode ist ein AcI, der gleichsam von dico (oder video im Vorsatz) abhängt; Das irreale Konditionalgefüge befindet sich demnach in infinitivischer Abhängigkeit. Der Infinitiv Perfekt der coniugatio periphrastica venditurum fuisse tritt als Ersatz für den an dieser Stelle hypothetisch benötigten „irrealen Infinitiv der Vergangenheit“.

Veri simile non est, ut […] anteponeret : pseudokonsekutiver ut-Satz; der Konjunktiv Imperfekt ist als Irrealis der Vergangenheit zu klassifizieren (cf. das esse im Hauptsatz). Der Irrealis wird losgelöst von der consecutio temporum gebraucht.


[12]

quae potuerit […] deducere : Der Konjunktiv steht aufgrund des konsekutiven Nebensinns des Relativsatzes: „wie hoch der Geldbetrag war, sodass er […] abbringen konnte“.

iussisti […] ipsum : du, Verres; er selbst, Heius

HS sex milibus quingentis : 6500 Sesterzen sind ein sehr geringer Betrag für vier solch berühmte Statuen.

isti : sc. qui studiosi sunt harum rerum [cf. Kap. 13]

Cupidinem Praxitelis : Akkusativ des Ausrufs. Selbstverständlich ist dies als Spott über Verres zu verstehen.


[13]

ad meam rationem usumque meum : ad bedeutet hier „gemäß. nach“

qui studiosi sunt harum rerum : harum rerum ist Genitivus obiectivus zu studiosi: „in diesen Sachen gelehrt“ oder „die Fachleute“.

vēnīre : verkauft werden; ursprünglich vēnum īre „zum Verkauf gehen“


[14]

HS XL : HS ist die Abkürzung für Sesterzen; der Strich über der Zahl gibt an, dass es sich um Tausender handelt.

Etenim qui modus est in his rebus cupiditatis, idem est aestimationis : Das Bezugswort des Relativsatzes modus „Grenze, Ende, Maß“ ist mit in diesen hineingerutscht, da cupiditatis davon abhängt; idem greift modus wieder auf: modus, qui in his rebus est (modus) cupiditatis, idem (modus) est aestimationis. Der Sinn ist: „Je größer die Gier, etwas besitzen zu wollen, desto mehr Geld wird man dafür aufwenden.”

nisi libidini feceris. : add. finem; feceris generalisierende zweite Person, potentiell gefärbter Konjunktiv


[15]

ne […] optemus : negierter Hortativ

publice : „öffentlich“ bezogen auf Messana, die Stadt der Mamertiner

ne forte […] de privatis iniuriis reticeat : sehr wahrscheinlich schwebt ein periculum est vor, von dem das ne abhängt. Nach periculum est wird ne mit „dass“ übersetzt (cf. finale Subjekt- und Objektsätze nach den Verba impediendi).

dum […] serviat : finaler Nebenbegriff (cf. Temporalsätze 4. γ. II)


[16]

respondere poterat : Der Lateiner verwendet bei Spekulationen (nach diversen Modalverben) den Indikativ, um das tatsächliche Bestehen der Möglichkeit etc. zu betonen, während wir die Unwirklichkeit des Infinitivs auf das Modalverb abfärben lassen.

si […] esset : Selten steht der Konjunktiv Imperfekt in der Funktion des Irrealis der Vergangenheit. Dies tritt im Folgenden öfters auf. (Es ist auch möglich, diese als Irrealis der Gegenwart aufzufassen, um Spannung zu erzeugen)

Qui : alter Ablativ von qui „wie? wieso?“

Ut homo turpissimus esset impudentissimeque mentiretur, hoc diceret (...) : konzessives ut "auch wenn"; solche Sätze nehmen den Irrealis wie Konditionalsätze zu sich (zum Tempus cf. oben si [...] esset; das in der Apodosis stehende diceret ist wohl ein Potentialis der Vergangenheit

qui […] vellet : kausaler Nebensinn

si utrum vellet liceret : vellet hängt direkt von liceret ab, das statt eines Infinitivs auch seltener einen bloßen Konjunktiv bei sich hat: „wenn es ihm erlaubt gewesen wäre, beides (nämlich ja und nein) zu wollen“.


[17]

tametsi, rogatus de cybaea, tenetis memoria, quid responderit : disp. Tametsi tenetis memoria, quid rogatus de cybaea responderit.

Idem : sc. Heius

qua iudicium est : Bezug auf lege; qua ist wohl Ablativus instrumenti oder causae. Heius berief sich auf die von Sulla erlassene Lex Cornelia de repetundis.


[18]

ecqui : wohl irgendein

Habitasti : exagg. „Du hast dich dort soviel aufgehalten, dass man meinen könnte, du habest dort gewohnt.”

denique : „ja, ja sogar“

Canephoros : cf. [5]

religioni suae […] proximus fuit : „er war seiner Gewissenhaftigkeit (Frömmigkeit) sehr nahe = hielt sich streng daran“

missum […], qui a senatu peteret : finaler Nebensinn des Relativsatzes (häufig nach Verben des Schickens)


[19]

Quanti is a civibus suis fieret, quanti auctoritas eius haberetur, ignorabas? : quanti ist jeweils Genitivus pretii (bzw. Qualitatis); fieri bedeutet hier „geschätzt werden”

quantam putas auctoritatem laudationis eorum futuram, si in eum, quem constet verum pro testimonio dixisse, poenam constituerint : der erste Teil ist relativisch bzw. interrogativ verschränkt: quantam auctoritatem ist der Akkusativ des von putas eingeleiteten AcI; futurum (esse) ist der dazugehörige Infinitiv. Alle nachstehenden Konjunktive erklären sich daher als oblique; bei quem constet […] dixisse handelt es sich erneut um eine relativische Verschränkung.

laedat necesse est : necesse steht seltener statt mit bloßem Infinitiv, AcI oder ut-Satz auch mit bloßem Konjunktiv; das Akkusativobjekt zu laedat (nämlich Verrem oder te) muss dazugedacht werden.

negent […] : deliberativ in den Fragen, iussivisch bzw. optativisch in den Antworten.

quam minimum dem illis temporis : quam + Superlativ = möglichst, so … wie möglich; minimum ist substantiviert „das kleinste Bisschen“; temporis = Genitivus partitivus;


[20]

Haec tibi laudatio procedat in numerum : tibi ist Dativus commodi; procedat („von statten gehen“) ist Optativ; in numerum „in den Takt“ („nach Wunsch / Plan“).

auctoritate sua : ironisch

quo in oppido : oppido bzw. eigentlich oppidum ist das Bezugswort des Relativsatzes, was hier mit in diesen hineingesetzt wurde.

totas : prädikativ, im Deutschen adverbiell

infamis : Alternativform zu infames „schändlich, entehrend“; hier prädikativ zu familias

tritici modium : synkopierter Genitiv Plural aus modiorum (Genitivus partitivus zu LX); triticum „Weizen“ (Genitivus partitivus zu modium)

empta : prädikativ zu LX

abs te solo remissum est : Verres hat Messana die Getreidelieferung gegen eine Geldentschädigung erlassen: Dafür mussten andere Städte nur umso mehr liefern.

Siculi : add. detrimentum fecerunt

ipsum […] detractum est : das Subjekt ist LX (modium tritici)

plus [...], quam ferre possent : In solchen komparativ-konsekutiven Verbindungen wird ut manchmal ausgelassen; daher steht auch der Konjunktiv. Im Deutschen steht der Irrealis der Vergangenheit aufgrund der Unwirklichkeit bzw. Unmöglichkeit des Ereignisses; cf. Cic. Verr. II, 1, 76




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