Tacitus - Germania - Kapitel XXXV - XXXVII : Stämme des Nordens - Deutsche Übersetzung


Kapitel XXXV - XXXVII : Stämme des Nordens



[35] Chauken und Gerechtigkeit
[36] Cherusker und Fosen
[37] Kimbern - Schrecken der Römer



35. Chauken und Gerechtigkeit


[35] Hactenus in occidentem Germaniam novimus; in septentrionem ingenti flexu redit. Ac primo statim Chaucorum gens, quamquam incipiat a Frisiis ac partem litoris occupet, omnium, quas exposui, gentium lateribus obtenditur, donec in Chattos usque sinuetur. Tam inmensum terrarum spatium non tenent tantum Chauci, sed et implent, populus inter Germanos nobilissimus, quique magnitudinem suam malit iustitia tueri. Sine cupididate, sine impotentia, quieti secretique nulla provocant bella, nullis raptibus aut latrociniis populantur. Id praecipuum virtutis ac virium argumentum est, quod, ut superiores agant, non per iniurias adsequuntur; prompta tamen omnibus arma ac, si res poscat, exercitus, plurimum virorum equorumque; et quiescentibus eadem fama.


[35] So weit kennen wir Germanien gen Westen; nach Norden schreitet es mit gewaltiger Biegung. Und gleich zuerst zieht sich das Volk der Chauken, obgleich es bei den Frisen beginnt und einen Teil der Küste einnimmt, entlang der Flanken aller Völker, die ich abgehandelt habe, ehe es bis zu den Chatten hin bogenförmig ausläuft. Den so unermesslichen Raum an Land halten die Chauken nicht nur, sondern sie füllen ihn gar aus: sie sind das vornehmste Volk unter den Germanen, das seine Größe lieber durch Gerechtigkeit bewahren möchte. Ohne Gier, ohne Zügellosigkeit, ruhig und entlegen provozieren sie keine Kriege, verheeren nicht durch Plünderei und Raubzüge. Besonderer Beweis ihrer Tapferkeit und Stärke ist dies, nämlich dass sie ihre Überlegenheit nicht durch Unrecht erlangen; doch haben alle ihre Waffen einsatzbereit und, wenn es die Situation fordert, ein Heer, Massen an Männern und Rossen; und obgleich sie Frieden halten, ist ihnen derselbe Ruhm.



36. Cherusker und Fosen


[36] In latere Chaucorum Chattorumque Cherusci nimiam ac marcentem diu pacem inlacessiti nutrierunt: idque iucundius quam tutius fuit, quia inter impotentes et validos falso quiescas: ubi manu agitur, modestia ac probitas <non> nomina superioris sunt. Ita, qui olim boni aequique, Cherusci, nunc inertes ac stulti vocantur: Chattis victoribus fortuna in sapientiam cessit. Tracti ruina Cheruscorum et Fosi, contermina gens. Adversarum rerum ex aequo socii sunt, cum in secundis minores fuissent.


[36] An der Flanke der Chauken und Chatten haben die Cherusker, da sie nicht herausgefordert worden sind, einen zu tiefen und lange Zeit erschlaffenden Frieden genährt: und dies war mehr angenehm als sicher, weil man ja unter Unbändigen und Mächtigen irrtümlich ruht: wo Faustrecht gilt, sind Sittlichkeit und Rechtschaffenheit keine Attribute des Überlegenen. So werden die Cherusker, die einst tüchtig und gerecht, nun schlaff und töricht genannt. Den Chatten, den Siegern, wurde ihr Glück als Weisheit angerechnet. Durch den Sturz der Cherusker ebenfalls mitgerissen wurden die Fosen, eine angrenzende Völkerschaft. Auf gleiche Weise sind sie Genossen des Unglücks, nachdem sie im Glück die Geringeren waren.


37. Kimbern - Schrecken der Römer


[37] Eundem Germaniae sinum proximi Oceano Cimbri tenent, parva nunc civitas, sed gloria ingens. Veterisque famae lata vestigia manent, utraque ripa castra ac spatia, quorum ambitu nunc quoque metiaris molem manusque gentis et tam magni exitus fidem. Sescentesimum et quadragesimum annum urbs nostra agebat, cum primum Cimbrorum audita sunt arma, Caecilio Metello et Papirio Carbone consulibus. Ex quo, si ad alterum imperatoris Traiani consulatum computemus, ducenti ferme et decem anni colliguntur: tam diu Germania vincitur. Medio tam longi aevi spatio multa in vicem damna. Non Samnis, non Poeni, non Hispaniae Galliaeve, ne Parthi quidem saepius admonuere: quippe regno Arsacis acrior est Germanorum libertas. Quid enim aliud nobis quam caedem Crassi, amisso et ipse Pacoro, infra Ventidium deiectus Oriens obiecerit? At Germani Carbone et Cassio et Scauro Aurelio et Servilio Caepione Gnaeoque Mallio fusis vel captis quinque simul consularis exercitus populo Romano, Varum trisque cum eo legiones etiam Caesari abstulerunt; nec impune C. Marius in Italia, divus Iulius in Gallia, Drusus ac Nero et Germanicus in suis eos sedibus perculerunt. Mox ingentes Gaii Caesaris minae in ludibrium versae. Inde otium, donec occasione discordiae nostrae et civilium armorum expugnatis legionum hibernis etiam Gallias adfectavere; ac rursus inde pulsi proximis temporibus triumphati magis quam victi sunt.

[37] Dieselbe Ausbuchtung halten die dem Ozean benachbarten Kimbern, jetzt eine kleine Gemeinde, doch ihr Ruhm gewaltig. Auch sind große Spuren ihres alten Rufes erhalten, an beiden Ufern Lager und Räume, an deren Umfang man jetzt noch die Masse und die Scharen des Volkes und die Glaubwürdigkeit seines so großen Auszugs bemessen kann. Unsere Stadt stand im 640. Jahr, als man zum ersten Mal von den Waffen der Kimbern hörte - das war im Konsulat des Caecilius Metellus und des Papirius Carbo. Seither sind, wenn man zum zweiten Konsulat des Kaisers Trajan rechnet, ungefähr zweihundertzehn Jahre vergangen: so lange schon wird Germanien besiegt. In mitten eines so langen Zeitabschnitts gab es auf beiden Seiten viele Verluste. Nicht die Samniten, nicht die Punier, nicht Spanien oder Gallien, ja nicht einmal die Parther machten öfter von sich reden: freilich wilder als die Alleinherrschaft des Arsaces ist der Freiheitsdrang der Germanen. Denn was könnte uns das Morgenland anderes als die Tötung des Crassus entgegenhalten, nachdem es seinerseits den Pacorus verloren hatte und unter den Ventidius niedergestürzt worden war? Dagegen entrissen die Germanen, nachdem sie Carbo, Cassius, Scaurus Aurelius, Servilius Caepio und Gnaeus Mallius geschlagen oder gefangen genommen hatten, dem römischen Volk zugleich fünf konsularische Heere, auch noch dem Kaiser den Varus und mit ihm drei Legionen; und nicht ungestraft haben Gaius Marius in Italien, der göttliche Julius in Gallien, Drusus, Nero und Germanicus sie in ihren eigenen Wohnsitzen geschlagen. Hierauf verwandelten sich die massiven Drohungen des Kaisers Gaius in Spott. Anschließend herrschte Ruhe, bis sie, bei der für sie günstigen Gelegenheit unserer Zwietracht und Bürgerkriege, nach der Eroberung eines Winterlagers der Legionen sogar Gallien zu gewinnen suchten; nachdem man sie von dort zurückgetrieben hatte, wurde in der Folgezeit mehr über sie triumphiert als gesiegt.



Anmerkungen und Hilfen


[35]

non tantum, sed et : nicht nur, sondern auch / sogar

ut superiores agant, non per iniurias adsequuntur. : eig. „sie erreichen nicht durch Unrecht, dass sie als Überlegene walten.“

[36]

modestia ac probitas <non> nomina superioris sunt : Ich bin der Meinung, dass Tacitus diese Stelle so gemeint haben muss, also ein „non“ zu konjizieren ist. Ohne ein „non“ würde die Stelle keinen Sinn machen; denn Tacitus führt zuerst an, dass die Cherusker friedvoll sind (also sittliche Werte wie modestia und probitas besitzen), durch ihre Friedfertigkeit allerdings erschlafft, dann einen Krieg gegen die Chatten verloren haben (zu otium und pax als Gründe für den Niedergang cf. Tac. Agr. 11). Folglich kann „superioris“ nicht die Cherusker bezeichnen, da sie ja nicht überlegen waren, den Krieg nicht gewonnen haben. Zum Überlegensein gehören in einem Kampf (manu agitur) nämlich weder Milde / Mäßigung / Sittlichkeit (modestia) noch Rechtschaffenheit (probitas), sondern Soldaten, die in Kriegsdingen Erfahrung haben und nicht „inlacessiti“, wie die Cherusker, sind.

[37]

et ipse : „und / auch selbst“ (=seinerseits)

infra Ventidium deiectus : „infra” kann nicht „unter“ im Sinne von „in jemandes Regentschaft“ oder „zur Zeit von“ bedeuten, sondern gibt die Richtung an, wohin der Orient (die Parther) geworfen worden sind: nämlich unter den Ventidius, also zu dessen Füßen. Gleichwohl ist Ventidius der Bezwinger der Parther und es ist logisch, wenngleich nicht ausgesprochen, dass die Niederwerfung auch unter seinem Kommando stattfand.
Zur zeitlichen Abfolge der Ereignisse sei gesagt, dass zuerst Crassus getötet worden ist, dann Pacorus getötet (und das Heer der Parther besiegt) und dann bzw. dadurch der „Orient“ unter den Ventidius geworfen worden ist.

Gaii Caesaris : Gemeint ist der Kaiser Caligula, der in Germanien keine große Erfolge verbuchen konnte, über seine Kriegspropaganda allerdings ein ganz anderes Bild darbot und das römische Volk belog.

triumphati : triumphare aliquem „über jemanden triumphieren”.



Druckbare Version
Seitenanfang nach oben