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Tacitus - Germania - Kapitel XVI-XXVII: Privates Leben - Deutsche Übersetzung |
| Kapitel XVI-XXVII: Privates Leben | | |
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16. Wohnen und Wohnungsbau |
[16] Nullas Germanorum populis urbes habitari satis notum est, ne pati quidem inter se iunctas sedes. Colunt discreti ac diversi, ut fons, ut campus, ut nemus placuit. Vicos locant non in nostrum morem conexis et cohaerentibus aedificiis: suam quisque domum spatio circumdat, sive adversus casus ignis remedium sive inscitia aedificandi. Ne caementorum quidem apud illos aut tegularum usus: materia ad omnia utuntur informi et citra speciem aut delectationem. Quaedam loca diligentius inlinunt terra ita pura ac splendente, ut picturam ac lineamenta colorum imitetur. Solent et subterraneos specus aperire eosque multo insuper fimo onerant: suffugium hiemis et receptaculum frugibus, quia rigorem frigorum eius modi loci molliunt, et si quando hostis advenit, aperta populatur, abdita autem et defossa aut ignorantur aut eo ipso fallunt, quod quaerenda sunt.
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[16] Es ist hinlänglich bekannt, dass keine Städte von den Völkern der Germanen bewohnt werden, ja nicht einmal untereinander verbundene Wohnsitze dulden sie. Sie wohnen getrennt und entlegen, wie eine Quelle, ein Feld oder ein Wald ihnen gefiel. Sie legen ihre Dörfer nicht nach unserer Sitte mit verbundenen und zusammenhängenden Gebäuden an: jeder umgibt sein Haus mit einem Zwischenraum, sei es als Mittel gegen Feuerunglück oder aus Unkenntnis des Bauens. Bei jenen findet nicht einmal der Gebrauch von Mauerstein oder Dachziegeln statt. Für alles nutzen sie unförmiges Bauholz und zwar ohne Zierde und Reiz. Manche Stellen bestreichen sie sorgfältiger mit einer so reinen und schimmernden Erdart, dass es Malerei und Farbzeichnungen nahekommt. Gewöhnlich erschließen sie auch unterirrdische Höhlen und beschweren diese von oben her mit viel Mist: ein Zufluchtsort für den Winter und ein Sammelort für Früchte, weil deartige Plätze die Härte der Kälte mildern; und wenn einmal ein Feind kommt, plündert er das Offenliegende, das Verborgene und Vergrabene hingegen wird entweder nicht erkannt oder es entgeht eben dadurch, dass man es suchen muss.
| 17. Kleidung von Frauen und Männern |
[17] Tegumen omnibus sagum fibula aut, si desit, spina consertum: cetera intecti totos dies iuxta focum atque ignem agunt. Locupletissimi veste distinguuntur, non fluitante, sicut Sarmatae ac Parthi, sed stricta et singulos artus exprimente. Gerunt et ferarum pelles, proximi ripae neglegenter, ulteriores exquisitius, ut quibus nullus per commercia cultus. Eligunt feras et detracta velamina spargunt maculis pellibusque beluarum, quas exterior Oceanus atque ignotum mare gignit. Nec alius feminis quam viris habitus, nisi quod feminae saepius lineis amictibus velantur eosque purpura variant, partemque vestitus superioris in manicas non extendunt, nudae brachia ac lacertos; sed et proxima pars pectoris patet.
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[17] Bedeckung ist für alle ein Mantel mit einer Spange oder, wenn sie nicht vorhanden sein sollte, mit einem Dorn zusammengeknüpft: unbedeckt, was das Übrige betrifft, verbringen sie ganze Tage an Herd und Feuer. Die Reichsten unterscheiden sich durch ein Gewand, nicht wallend, wie Sarmaten und Parther, sondern stramm und die einzelnen Gliedmaßen hervorhebend. Sie tragen auch Felle wilder Tiere, die dem Ufer Benachbarten nachlässig, die Entfernteren ausgesuchter, weil ihnen keine Kleidung durch Handel ist. Sie suchen Wild aus und bestreuen die abgezogenen Hüllen mit Flecken und Fellen von Tieren, die der äußere Ozean und das unbekannte Meer hervorbringen. Auch die Frauen haben kein anderes Aussehen als die Männer, abgesehen davon, dass sich die Frauen öfter in Gewänder aus Lein hüllen und diese mit Purpur färben, und den Teil der oberen Tracht nicht in Ärmel verlängern, nackt an Unter- und Oberarmen; aber auch der nächste Teil der Brust ist sichtbar.
| 18. Die Bedeutung der Ehe |
[18] Quamquam severa illic matrimonia, nec ullam morum partem magis laudaveris. Nam prope soli barbarorum singulis uxoribus contenti sunt, exceptis admodum paucis, qui non libidine, sed ob nobilitatem plurimis nuptiis ambiuntur. Dotem non uxor marito, sed uxori maritus offert. Intersunt parentes et propinqui ac munera probant, munera non ad delicias muliebres quaesita nec, quibus nova nupta comatur, sed boves et frenatum equum et scutum cum framea gladioque. In haec munera uxor accipitur, atque in vicem ipsa armorum aliquid viro adfert: hoc maximum vinculum, haec arcana sacra, hos coniugales deos arbitrantur. Ne se mulier extra virtutum cogitationes extraque bellorum casus putet, ipsis incipientis matrimonii auspiciis admonetur venire se laborum periculorumque sociam, idem in pace, idem in proelio passuram ausuramque. Hoc iuncti boves, hoc paratus equus, hoc data arma denuntiant. Sic vivendum, sic pereundum: accipere se, quae liberis inviolata ac digna reddat, quae nurus accipiant, rursusque ad nepotes referantur.
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[18] Jedoch herrschen dort strenge Ehen, und nicht irgendeinen Teil ihrer Sitten möchte man mehr loben. Denn sie als beinahe alleinige der Barbaren sind mit einer einzigen Frau zufrieden, ganz wenige ausgenommen, die sich nicht aus zügelloser Begierde, sondern des Adels wegen mit mehreren Heiraten umgeben. Die Mitgift bringt nicht die Gattin dem Gatten, sondern der Gatte der Gattin. Eltern und Verwandte sind dabei und prüfen die Gaben; die Gaben sind nicht zum Vergnügen des Weibs ausgesucht und nicht, um die frisch Vermählte zu zieren, sondern es sind Rinder, ein gezäumtes Pferd und ein Schild mit Frame und Schwert. Gegen diese Gaben wird die Frau empfangen, und auch sie selbst bringt ihrerseits dem Mann irgendetwas an Waffen: dies halten sie für das stärkste Band, dies für das geheime Heiligtum, dies für den göttlichen Eheschutz. Damit die Frau nicht glaubt, frei vom Denken an Heldentaten und frei von Kriegsfällen zu sein, wird sie unmittelbar durch die Auspizien zu Beginn ihrer Ehe daran erinnert, dass sie als Begleiterin der Mühen und Gefahren komme, um dasselbe im Frieden, dasselbe auf dem Schlachtfeld zu ertragen und zu wagen. Dies verkünden die geschirrten Rinder, dies das gerüstete Pferd, dies die gegebenen Waffen. So ist zu leben, so zu sterben: sie erhalte, was sie ihren Kindern unversehrt und würdig weitergeben solle, was die Schwiegertöchter erhalten und die wiederum auf ihre Enkel übertragen sollten.
| 19. Treue in der Ehe |
[19] Ergo saepta pudicitia agunt, nullis spectaculorum inlecebris, nullis conviviorum inritationibus corruptae. Litterarum secreta viri pariter ac feminae ignorant. Paucissima in tam numerosa gente adulteria, quorum poena praesens et maritis permissa: abscisis crinibus nudatam coram propinquis expellit domo maritus ac per omnem vicum verbere agit; publicatae enim pudicitiae nulla venia: non forma, non aetate, non opibus maritum invenerit. Nemo enim illic vitia ridet, nec corrumpere et corrumpi saeculum vocatur. Melius quidem adhuc eae civitates, in quibus tantum virgines nubunt et cum spe votoque uxoris semel transigitur. Sic unum accipiunt maritum, quo modo unum corpus unamque vitam, ne ulla cogitatio ultra, ne longior cupiditas, ne tamquam maritum, sed tamquam matrimonium ament. Numerum liberorum finire aut quemquam ex adgnatis necare flagitium habetur, plusque ibi boni mores valent quam alibi bonae leges.
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[19] Also leben sie in behüteter Schamhaftigkeit, durch keine Lockungen von Schauspielen, durch keine Reizungen von Gelagen verdorben. Briefgeheimnisse sind Frauen und Männern auf gleich Weise unbekannt. Äußerst selten kommen bei einem so zahlreichen Volk Ehebrüche vor, deren Bestrafung augenblicklich und den Ehemännern überlassen ist: mit abgeschnittenen Haaren treibt der Ehemann sie vor den Augen der Verwandeten nackt aus dem Haus und jagt sie mit Schlägen durch das ganze Dorf; denn für preisgegebene Sittsamkeit gibt es keine Gnade: Nicht durch Schönheit, nicht durch ihr Alter, nicht durch Reichtum dürfte sie einen Ehemann finden. Denn niemand dort belacht Fehler, und verderben und verderben lassen ist nicht Zeitgeist. Ja besser noch sind diejenigen Gemeinden, bei denen nur Jungfrauen heiraten und wo es mit der Hoffnung und dem Wunsch der Ehefrau ein für alle Mal abgeschlossen wird. So erhalten sie einen Ehemann, wie sie einen Körper und ein Leben erhalten haben, damit darüber hinaus kein Gedanke, keine Begierde weiter bestehe, damit sie nicht gleichsam den Ehemann, sondern den Ehebund lieben. Die Zahl der Kinder zu begrenzen oder irgendeinen von den Nachgeborenen zu töten gilt als Schande, und gute Sitten gelten dort mehr als anderswo gute Gesetze.
| 20. Eheleben, Kindererziehung und Verwandschaften |
[20] In omni domo nudi ac sordidi in hos artus, in haec corpora, quae miramur, excrescunt. Sua quemque mater uberibus alit, nec ancillis ac nutricibus delegantur. Dominum ac servum nullis educationis deliciis dignoscas: inter eadem pecora, in eadem humo degunt, donec aetas separet ingenuos, virtus adgnoscat. Sera iuvenum venus, eoque inexhausta pubertas. Nec virgines festinantur; eadem iuventa, similis proceritas: pares validaeque miscentur, ac robora parentum liberi referunt. Sororum filiis idem apud avunculum, qui ad patrem, honor. Quidam sanctiorem artioremque hunc nexum sanguinis arbitrantur et in accipiendis obsidibus magis exigunt, tamquam et animum firmius et domum latius teneant. Heredes tamen successoresque sui cuique liberi, et nullum testamentum. Si liberi non sunt, proximus gradus in possessione: fratres, patrui, avunculi. Quanto plus propinquorum, quanto maior adfinium numerus, tanto gratiosior senectus; nec ulla orbitatis pretia.
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[20] In jedem Haus wachsen sie nackt und schmutzig in diese Gliedmaßen, in diese Körper hinein, die wir bewundern. Jeden nährt seine eigene Mutter mit ihren Brüsten, und sie werden keinen Magden und Ammen überwiesen. Herrn und Knecht kann man durch keine Tändeleien der Erziehung unterscheiden: Zwischen demselben Vieh, auf demselben Boden bringen sie ihre Zeit zu, bis das Alter die Freigeborenen trennt, die Tapferkeit sie bestätigt. Die jungen Männer kommen erst spät in den Liebesgenuss, und daher ist ihre Manneskraft unerschöpflich. Auch mit den Jungfrauen hat man es nicht eilig; sie haben dieselbe Jugendkraft, einen ähnlich hohen Wuchs. Ebenbürtig und kräftig vereinigt man sie, und die Kinder spiegeln die Stärke ihrer Eltern wider. Die Söhne der Schwestern haben beim Onkel dieselbe Stellung, die sie auch beim Vater haben. Manche halten diese Verknüpfung des Blutes für heiliger und fester und fordern bei der Annahme von Geiseln diese mehr, weil sie nach ihrer Auffassung die Stimmung fester und die Familie in größerem Umfang beherrschen würden. Doch Erben und Nachfolger sind für jeden seine eigenen Kinder, und ein Testament gibt es nicht. Wenn es keine Kinder gibt, ist der nächste Rang im Besitz: Brüder, des Vaters Brüder, der Mutter Brüder. Je mehr Verwandte man hat, je größer die Zahl der Verschwägerten, desto angenehmer ist das Alter; und für Kinderlosigkeit gibt es keine Belohnung.
| 21. Soziale Beziehungen und Gastfreundschaft |
[21] Suscipere tam inimicitias seu patris seu propinqui quam amicitias necesse est; nec implacabiles durant: luitur enim etiam homicidium certo armentorum ac pecorum numero recipitque satisfactionem universa domus, utiliter in publicum, quia periculosiores sunt inimicitiae iuxta libertatem.
Convictibus et hospitiis non alia gens effusius indulget. Quemcumque mortalium arcere tecto nefas habetur; pro fortuna quisque apparatis epulis excipit. Cum defecere, qui modo hospes fuerat, monstrator hospitii et comes; proximam domum non invitati adeunt. Nec interest: pari humanitate accipiuntur. Notum ignotumque, quantum ad ius hospitis, nemo discernit. Abeunti, si quid poposcerit, concedere moris; et poscendi in vicem eadem facilitas. Gaudent muneribus, sed nec data imputant nec acceptis obligantur: victus inter hospites comis.
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[21] Unumgänglich ist es, Feindschaften ebenso wie Freundschaften, mögen es die des Vaters oder die eines Verwandten sein, zu übernehmen; doch sie dauern nicht unversöhnlich fort: denn auch einen Mord büßt man mit einer gewissen Zahl an Groß- und Kleinvieh und das gesamte Haus nimmt die Genugtuung an, mit Nutzen für das allgemeine Wohl, weil bei herrschender Freiheit Feindschaften gefährlicher sind.
Geselligen Mahlen und gastlichen Bewirtungen gibt sich kein anderes Volk unmäßiger hin. Wem auch immer von den Sterblichen den Zutritt zu seinem Haus zu verwehren, gilt als Frevel; jeder nimmt ihn, mit einen nach seinem Habe bereiteten Essen, auf. Hat das Essen nicht ausgereicht, ist der, der eben noch Gastgeber gewesen war, nun Wegweiser zu einer anderen Herberge und zugleich Mitgänger; sie gehen ungeladen zum nächsten Haus. Und da kein Unterschied: mit gleicher Freundlichkeit werden sie empfangen. Niemand unterscheidet einen Bekannten von einem Unbekannten, soweit es das Gastrecht betrifft. Falls er irgendetwas fordern sollte, ist es Brauch, dies dem Weggehenden zu gestatten; und andersherum herrscht dieselbe Leichtigkeit des Forderns. Sie freuen sich über Gaben, doch weder stellen sie das Gegebene in Rechnung noch verpflichten sie sich durch das Empfangene: Die Lebensweise unter Gästen ist frohsinnig.
| 22. Gewöhnlicher Tagesablauf |
[22] Statim e somno, quem plerumque in diem extrahunt, lavantur, saepius calida, ut apud quos plurimum hiems occupat. Lauti cibum capiunt: separatae singulis sedes et sua cuique mensa. Tum ad negotia nec minus saepe ad convivia procedunt armati. Diem noctemque continuare potando nulli probrum. Crebrae, ut inter vinolentos, rixae raro conviciis, saepius caede et vulneribus transiguntur. Sed et de reconciliandis in vicem inimicis et iungendis adfinitatibus et adsciscendis principibus, de pace denique ac bello plerumque in conviviis consultant, tamquam nullo magis tempore aut ad simplices cogitationes pateat animus aut ad magnas incalescat. Gens non astuta nec callida aperit adhuc secreta pectoris licentia ioci; ergo detecta et nuda omnium mens. Postera die retractatur, et salva utriusque temporis ratio est: deliberant, dum fingere nesciunt, constituunt, dum errare non possunt.
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[22] Sofort nach dem Schlaf, den sie meistens bis in den Tag hinausziehen, waschen sie sich, öfter mit warmem Wasser, da bei ihnen die meiste Zeit der Winter einnimmt. Nach dem Waschen nehmen sie Essen zu sich: jedem sind getrennte Sitze und jedem ist sein eigener Tisch. Dann schreiten sie bewaffnet zu ihren Beschäftigungen und nicht weniger oft zu Gelagen. Tag und Nacht ununterbrochen durchzuzechen ist für keinen eine Schande. Die - wie es eben unter Betrunkenen so ist - zahlreichen Streiteren werden selten nur mit Schimpfwörtern, öfters mit Mord und Wunden ausgefochten. Aber auch über das gegenseitige Aussöhnen von Feinden, das Herstellen von Schwägerschaften und das Anerkennen von Oberhäuptern, letztlich über Frieden und Krieg beratschlagen sie meistens auf den Gelagen, weil der Geist zu keiner Zeit in höherem Grade entweder für einfache Gedanken zugänglich sei oder für komplexe erglühe. Nicht hinterlistig und nicht durchtrieben öffnet dieses Volk zudem in der Ungebundenheit des Spaßes die Geheimnisse des Herzens; folglich ist die Gesinnung aller enthüllt und nackt. Am nächsten Tag nimmt man es sich wieder vor, und wohlbegründet sind beide Zeitpunkte: Sie überlegen, während sie nicht imstande sind, sich zu verstellen, und sie beschließen, während sie nicht irren können.
| 23. Getränke, Speisen und Trunksucht |
[23] Potui umor ex hordeo aut frumento, in quandam similitudinem vini corruptus: proximi ripae et vinum mercantur. Cibi simplices, agrestia poma, recens fera aut lac concretum: sine apparatu, sine blandimentis expellunt famem. Adversus sitim non eadem temperantia. Si indulseris ebrietati suggerendo, quantum concupiscunt, haud minus facile vitiis quam armis vincentur.
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[23] Zum Getränk dient eine Flüssigkeit aus Gerste oder Weizen, zu einer gewissen Weinähnlichkeit vergoren: die dem Ufer Nächsten erhandeln auch Wein. Die Speisen sind einfach, wildes Obst, frisches Wildbret oder geronnene Milch: ohne besondere Zubereitung, ohne Gaumenkitzel vertreiben sie den Hunger. Gegen Durst herrscht nicht dieselbe Mäßigung. Wenn man ihrer Trunkenheit freien Lauf lässt, indem man ihnen gewährt, wieviel sie begehren, werden sie nicht weniger leicht durch ihre Laster als durch Waffen besiegt werden.
| 24. Schauspiel und Spielsucht |
[24] Genus spectaculorum unum atque in omni coetu idem. Nudi iuvenes, quibus id ludicrum est, inter gladios se atque infestas frameas saltu iaciunt. Exercitatio artem paravit, ars decorem, non in quaestum tamen aut mercedem: quamvis audacis lasciviae pretium est voluptas spectantium. Aleam, quod mirere, sobrii inter seria exercent, tanta lucrandi perdendive temeritate, ut, cum omnia defecerunt, extremo ac novissimo iactu de libertate ac de corpore contendant. Victus voluntariam servitutem adit: quamvis iuvenior, quamvis robustior, adligari se ac venire patitur. Ea est in re prava pervicacia; ipsi fidem vocant. Servos condicionis huius per commercia tradunt, ut se quoque pudore victoriae exsolvant.
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[24] Die Art von Schauspielen ist bei jeder Zusammenrottung ein und dieselbe. Nackte Jünglinge, für die das ein Spiel ist, werfen sich im Springen zwischen Schwerter und drohende Framen. Übung verschafft Geschick, Geschick einen schönen Anblick, allerdings nicht zum Erwerb oder Lohn: der Lohn für eine noch so kühne Ausgelassenheit ist das Vergnügen der Zuschauenden. Würfelspiel betreiben sie – worüber man sich wundert – nüchtern und ernster Dinge, mit so großer Unbesonnenheit des Gewinnens und Verlierens, dass sie, wenn alles dahingegangen ist, mit ihrem äußersten und letzten Wurf um Freiheit und Leib spielen. Der Besiegte tritt eine freiwillige Knechtschaft an: obgleich jünger, obgleich kräftiger, nimmt er es hin, dass er gefesselt und verkauft wird. Derartiger Starrsinn herscht bei einer verkehrten Sache; sie selbst nennen es Ehrlichkeit. Sklaven dieser Art geben sie durch Handel weiter, um auch sich selbst vom Schamgefühl des Sieges zu befreien.
| 25. Umgang mit Sklaven und Freigelassenen |
[25] Ceteris servis non in nostrum morem descriptis per familiam ministeriis utuntur: suam quisque sedem, suos penates regit. Frumenti modum dominus aut pecoris aut vestis ut colono iniungit, et servus hactenus paret: cetera domus officia uxor ac liberi exsequuntur. Verberare servum ac vinculis et opere coercere rarum: occidere solent, non disciplina et severitate, sed impetu et ira, ut inimicum, nisi quod impune est. Liberti non multum supra servos sunt, raro aliquod momentum in domo, numquam in civitate, exceptis dumtaxat iis gentibus, quae regnantur. Ibi enim et super ingenuos et super nobiles ascendunt: apud ceteros impares libertini libertatis argumentum sunt.
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[25] Die übrigen Sklaven verwenden sie nicht nach unserer Sitte, indem sie unter der Dienerschaft Aufgaben verteilen: Nein, ein jeder ist Herr über seinen eigenen Boden und sein eigenes Haus. Ein Maß an Getreide, Vieh oder Kleidung erlegt ihm sein Herr wie einem Pächter auf, und in diesem Umfange gehorcht der Sklave: Frau und Kinder erledigen die übrigen Hausdienste. Den Sklaven zu peitschen und durch Gefängnis und Strafarbeit zu züchtigen, ist selten: gewöhnlich hauen sie ihn nieder, nicht aus Zucht und Strenge, sondern aus Erregung und Zorn, wie einen Feind, abgesehen davon, dass es straflos ist. Freigelassene stehen nicht weit über Sklaven. Selten haben sie irgendein Gewicht im Haus, niemals in der Gemeide, lediglich diejenigen Völkerschaften ausgenommen, die unter einem König stehen. Denn da steigen sie sowohl über die Freigeborenen als auch über die Adligen empor: bei den Übrigen gelten nichtgleichgestellte Freigelassene als Beweis der Freiheit.
| 26. Vermögensverhältnisse und Landwirtschaft |
[26] Faenus agitare et in usuras extendere ignotum; ideoque magis servatur, quam si vetitum esset. Agri pro numero cultorum ab universis in vices occupantur, quos mox inter se secundum dignationem partiuntur; facilitatem partiendi camporum spatia praestant. Arva per annos mutant, et superest ager. Nec enim cum ubertate et amplitudine soli labore contendunt, ut pomaria conserant et prata separent et hortos rigent: sola terrae seges imperatur. Unde annum quoque ipsum non in totidem digerunt species: hiems et ver et aestas intellectum ac vocabula habent, autumni perinde nomen ac bona ignorantur.
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[26] Mit Kapital zu handeln und durch Zinsen zu vergrößern, ist ihnen unbekannt; und darum lässt man es mehr noch sein, als wenn es verboten worden wäre. Äcker werden nach der Zahl der Besteller von der Gesamtheit im Wechsel in Besitz genommen, die sie dann untereinander gemäß ihres Ranges aufteilen; die Räume der Felder gewähren eine Leichtigkeit der Verteilung. Die Saatfelder wechseln sie über die Jahre hinweg, und übrig bleibt Brachland. Sie wettstreiten nicht mühevoll mit der Fruchtbarkeit und Weite des Erdbodens, um Obst anzupflanzen, Wiesen zu trennen und Gärten zu bewässern: die Saat allein wird der Erde aufgetragen. Daher gliedern sie das Jahr selbst auch nicht in ebensoviele Erscheinungen: Winter, Frühling und Sommer werden verstanden und haben eigene Bezeichnungen, den Namen ebenso wie die Güter des Herbstes kennt man nicht.
| 27. Begräbnisse |
[27] Funerum nulla ambitio: id solum observatur, ut corpora clarorum virorum certis lignis crementur. Struem rogi nec vestibus nec odoribus cumulant: sua cuique arma, quorundam igni et equus adicitur. Sepulcrum caespes erigit: monumentorum arduum et operosum honorem ut gravem defunctis aspernantur. Lamenta ac lacrimas cito, dolorem et tristitiam tarde ponunt. Feminis lugere honestum est, viris meminisse.
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[27] Keine Prunksucht der Begräbnisse: man achtet nur darauf, dass die Körper berühmter Männer mit gewissen Holzen verbrannt werden. Den Holzhaufen des Scheiterhaufens überhäufen sie weder mit Kleidern noch mit Räucherwerk: jedem werden seine Waffen, dem Feuer mancher sogar sein Pferd mitgegeben. Rasen hebt das Grab in die Höhe: die hochragende und mühevolle Zierde der Denkmäler verwerfen sie als beschwerend für die Verstorbenen. Wehklagen und Tränen legen sie schnell, Schmerz und Traurigkeit langsam ab. Für Frauen ist es schicklich zu trauern, für Männer zu gedenken.
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Anmerkungen und Hilfen
[17]
Gerunt et ferarum pelles, proximi ripae neglegenter, ulteriores exquisitius : Weil nämlich diejenigen Germanen, die dem Rheinufer nahe waren, mit dem Römern in Handelskontakt standen und daher auch römische Kleidung trugen, griffen sie nur neglegenter auf ihre ferarum pelles, sozusagen ihre Standardkleidung, zurück. Diejenigen, die aber nicht mit den Römern in Kontakt kamen, waren darauf angewiesen, exquisitius ("auf ausgesuchtere Weise") Tierfelle zu tragen.
ut quibus nullus per commercia cultus : sc. sit; das ut modifiziert den Relativsatz kausal
[18]
nec (munera), quibus nova nupta comatur : das Bezugswort des Relativsatzes ist munera, also „und keine Gaben, durch welche die neue Gattin geschmückt werden soll.“ Der Konjunktiv im Relativsatz steht zum Ausdruck eines adverbialen Nebensinns, hier final aufgefasst.
ipsis incipientis matrimonii auspiciis : „an den Auspizien der beginnenden Ehe selbst“. Zu ipsis ist zu sagen, dass ipse nicht nur „selbst“ heißt, sondern wie auch im Deutschen je nach Kontext viele Bedeutungen haben kann.
accipere se, quae liberis inviolata ac digna reddat, quae nurus accipiant, rursusque ad nepotes referantur. : die Konjunktive können einerseits schlicht als oblique gerechtfertigt werden, andererseits kann trotzdem ein durch die Obliquität zwar äußerlich nicht sichtbarer, doch vorhandener adverbialer Nebensinn des Relativsatzes vorliegen, wofür sich hier wie im letztgenannten Beispiel wieder ein finaler anbietet.
[19]
tamquam et animum firmius et domum latius teneant : tamquam wird neben seiner adverbialen Verwendung auch als Konjunktion verwendet. Und zwar einerseits zur Einleitung hypothetischer Vergleichssätze und andererseits für Kausalsätze, die eine Ansicht enthalten, die nicht mit der des Sprechers kongruiert. Daher auch in der Übersetzung zur Kennzeichnung der fremden Ansicht: „nach ihrer Meinung“ und der Konjunktiv.
[21]
quemcumque mortalium arcere tecto : arcere aliquem aliqua re „jemanden von einer Sache fernhalten“ (= jemandem den Zutritt zu einer Sache verwehren). Denn die gemeinte Vorstellung des Tacitus ist bestimmt nicht, einen an die Tür klopfenden Gast, mit Knüppel und Frame von seinem Haus fernzuhalten.
quantum ad ius hospitis (est) : restriktives (den Geltungsbereich der Aussage einschränkendes) quantum „ soviel, soweit, sofern, was … betrifft“, Vgl. dazu auch das restriktive quod.
[22]
plurimum : kann hier nicht Adverb sein, da occupare transitiv gebraucht wird und plurimum als Objekt fordert. Ein tempus ist sicher sinngemäß zu ergänzen.
Diem noctemque continuare potando nulli probrum. : continuare „ohne Unterbrechung (= unmittelbar) aneinanderreihen“; diem und noctem sind Akkusativobjekte zu continuare: „Tag und Nacht ohne Unterbrechung durch Trinken ( potando als Ablativus instrumenti) aneinanderzureihen, ist für keinen eine Schande.
salva utriusque temporis ratio est : eig. „ die Berechnung beider Zeitpunkt ist wohl“ ( Genitivus obiectivus); das umfassende Wort ratio gibt aber auch die Bedeutungen „Grund, Begründung, Sinn“ her. So kommt man von der Grund beider Zeitpunkt ist wohl zu beide Zeitpunkte sind wohlbegründet oder beide Zeitpunkte haben ihren Sinn. Was die eigentliche Begründung für die beiden Zeitpunkte - gemeint sind natürlich die Termine, an denen man zusammenkommt – ist, folgt im anschließenden Satz.
[24]
inter seria : feste, adverbial erstarrte Formel; eig. „unter ernsten Dingen“
[25]
descriptis per familiam ministeriis : prädikativer Ablativ (Abl. Abs.) „mit Aufgaben als unter der Dienerschaft verteilten”.
[26]
Faenus agitare et in usuras extendere : faenus heißt bei Tacitus zumeist „(das gegen Zinsen) gegebene Kapital”; in usuras extendere meint eig. „zu seinem Nutzen ausdehnen/vergrößern”, was eben im Falle des verliehenen Kapitals durch Verzinsung geschieht.
ideoque magis servatur : sc. faenus non agitare; die Pointe der Formulierung liegt darin, dass man eine Sache, die man nicht kennt, ohnehin nicht tun kann (und deren Nicht-tun daher mehr bzw. völlig eingehalten wird), während man eine Sache, die zu tun nur qua Gesetz untersagt ist, dennoch tun kann. Bereits Caesar führte in Rom Gesetze gegen Wucher ein, die maximal erlaubte Zinssätze festlegten, cf. Tac. Ann. 6, 16.
[27]
sua cuique arma, quorundam igni et equus adicitur : erneut ein schönes Beispiel für eine Inkonzinnität: Wechsel von Mensch zu Sache.
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