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Tacitus - Germania - Kapitel I-V: Land und Ursprung der Germanen - Deutsche Übersetzung |
| Kapitel I-V: Land und Ursprung der Germanen | | |
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1. Geografische Einordnung Germaniens |
[1] Germania omnis a Gallis Raetisque et Pannoniis Rheno et Danuvio fluminibus, a Sarmatis Dacisque mutuo metu aut montibus separatur; cetera Oceanus ambit, latos sinus et insularum inmensa spatia complectens, nuper cognitis quibusdam gentibus ac regibus, quos bellum aperuit. Rhenus, Raeticarum Alpium inaccesso ac praecipiti vertice ortus, modico flexu in occidentem versus septentrionali Oceano miscetur. Danuvius molli et clementer edito montis Abnobae iugo effusus pluris populos adit, donec in Ponticum mare sex meatibus erumpat: septimum os paludibus hauritur.
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[1] Ganz Germanien wird von den Galliern und Rätern und von den Pannoniern durch die Flüsse Rhein und Donau, von den Sarmaten und Daziern durch wechselseitige Furcht oder Gebirge getrennt;
das Übrige umgibt der Ozean, weite Buchten und unermessliche Inselräume umfassend, wobei man vor Kurzem von gewissen Völkerschaften und Königen erfahren hat, die der Krieg ans Licht brachte. Der Rhein, entsprungen aus dem unerreichbaren und steilen Gipfel der rätischen Alpen, mischt sich, nachdem er sich mit einer mäßigen Beugung gen Westen gewandt hat, mit dem nördlichen Ozean. Die Donau, aus dem sanften und mild herausragenden Gipfel des Schwarzwaldes herausströmend, sucht mehrere Völker auf, bis sie sich über sechs Läufe ins Schwarze Meer ergießt: die siebte Mündung wird von Sümpfen verschlungen.
| 2. Urgeschichte und Namensfindung |
[2] Ipsos Germanos indigenas crediderim minimeque aliarum gentium adventibus et hospitiis mixtos, quia nec terra olim, sed classibus advehebantur, qui mutare sedes quaerebant, et inmensus ultra utque sic dixerim adversus Oceanus raris ab orbe nostro navibus aditur. Quis porro, praeter periculum horridi et ignoti maris, Asia aut Africa aut Italia relicta Germaniam peteret, informem terris, asperam caelo, tristem cultu adspectuque, nisi si patria sit?
Celebrant carminibus antiquis, quod unum apud illos memoriae et annalium genus est, Tuistonem deum terra editum. Ei filium Mannum, originem gentis conditoremque, Manno tris filios adsignant, e quorum nominibus proximi Oceano Ingaevones, medii Herminones, ceteri Istaevones vocentur. Quidam, ut in licentia vetustatis, pluris deo ortos plurisque gentis appellationes, Marsos, Gambrivios, Suebos, Vandilios adfirmant, eaque vera et antiqua nomina. Ceterum Germaniae vocabulum recens et nuper additum, quoniam, qui primi Rhenum transgressi Gallos expulerint ac nunc Tungri, tunc Germani vocati sint: ita nationis nomen, non gentis evaluisse paulatim, ut omnes primum a victore ob metum, mox etiam a se ipsis invento nomine Germani vocarentur.
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[2] Ich glaube wohl, dass die Germanen selbst Eingeborene und keinesfalls durch Einwanderungen und Aufnahme anderer Völkerschaften vermischt sind, weil diejenigen, die ihren Wohnsitz zu ändern suchten, dereinst nämlich nicht zu Lande, sondern mit Schiffen heranfuhren, der unermessliche und sozusagen feindliche Ozean jenseits aber selten von Schiffen aus unserer Welt befahren wird. Außerdem: Wer würde – abgesehen von der Gefahr eines rauhen und unbekannten Meeres – entweder Asien, Afrika oder Italien verlassen und dann Germanien aufsuchen, gestaltlos was seine Landschaft, rauh was sein Klima, betrübend was seine Bebauung und seinen Anblick betrifft, außer wenn es seine Heimat wäre?
Sie feiern in alten Liedern – was bei jenen die einzige Art von geschichtlichen Überlieferungen ist – Tuisto, den aus der Erde geborenen Gott. Ihm schreiben sie einen Sohn Mannus, als den Ursprung und Gründer ihres Volkes, dem Mannus wiederum drei Söhne zu, nach deren Namen sich die dem Ozean nächsten Ingaevonen, die mittleren Herminonen und die Übrigen Istaevonen nennen. Gewisse - wie es ja in der Willkür des Altertums liegt – behaupten, von dem Gott entstammten mehr Söhne und es gebe mehr Benennungen der Völkerschaften, nämlich Marser, Gambrivier, Sueben und Vandilier und diese Namen seien alt und wahr. Im Übrigen sei der Name Germania neu und erst kürzlich hinzugetan, weil jene, die zuerst den Rhein überschritten und dann die Gallier vertrieben hätten und jetzt Tungrer hießen, damals Germanen genannt worden seien: so habe der Name eines Stammes, nicht des Gesamtvolkes allmählich an Geltung gewonnen, dass zunächst alle aus Furcht nach dem Sieger, bald darauf auch von sich selbst, nachdem der Name erstmal aufgekommen war, Germanen genannt wurden.
| 3. Mythen und Sagen |
[3] Fuisse apud eos et Herculem memorant, primumque omnium virorum fortium ituri in proelia canunt. Sunt illis haec quoque carmina, quorum relatu, quem barditum vocant, accendunt animos futuraeque pugnae fortunam ipso cantu augurantur. Terrent enim trepidantve, prout sonuit acies, nec tam vocis ille quam virtutis concentus videtur. Adfectatur praecipue asperitas soni et fractum murmur obiectis ad os scutis, quo plenior et gravior vox repercussu intumescat. Ceterum et Ulixen quidam opinantur longo illo et fabuloso errore in hunc Oceanum delatum adisse Germaniae terras, Asciburgiumque, quod in ripa Rheni situm hodieque incolitur, ab illo constitutum nominatumque; aram quin etiam Ulixi consecratam, adiecto Laertae patris nomine, eodem loco olim repertam, monumentaque et tumulos quosdam Graecis litteris inscriptos in confinio Germaniae Raetiaeque adhuc exstare. Quae neque confirmare argumentis neque refellere in animo est: ex ingenio suo quisque demat vel addat fidem.
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[3] Man erzählt, dass auch Herkules bei diesen gewesen sei, und sie besingen ihn als den ersten aller tapferen Männer, wenn sie im Begriffe sind, in Schlachten zu ziehen. Auch sind jenen Lieder, durch deren Vortrag, den sie barditus nennen, sie sich Mut machen und den Ausgang der künftigen Schlacht anhand des bloßen Klanges prophezeien. Sie verbreiten nämlich Schrecken oder sind ängstlich, je nachdem die Schlachtlinie geklungen hat, und jener scheint nicht so sehr ein Einklang der Stimme als vielmehr der Tapferkeit zu sein. Man ist besonders auf Rauheit des Tones und dumpfes Dröhnen bedacht, mit vor den Mund gehaltenen Schilden, damit ihre Stimme durch das Zurückschallen umso volltönender und intensiver anschwillt. Im Übrigen meinen einige, dass auch Odysseus nach jener langen und mythenreichen Irrfahrt in diesen Ozean verschlagen worden und dann in die Länder Germaniens gekommen sei, und Asburg, was am Ufer des Rheins liegt und heute bewohnt wird, von jenem gegründet und benannt worden sei; ja sogar ein Altar, von Odysseus geweiht, mit dem Namen des Vaters Laertes darauf, sei dereinst an derselben Stelle gefunden worden, und noch heute fänden sich Denkmäler und einige mit griechischen Buchstaben beschriebene Grabhügel an der Grenze Germaniens und Raetiens. Weder will ich das mit Argumenten untermauern noch widerlegen: Jeder mag dem nach seinem Geschmack Glauben schenken oder entziehen.
| 4. Das Aussehen der Germanen |
[4] Ipse eorum opinionibus accedo, qui Germaniae populos nullis aliis aliarum nationum conubiis infectos propriam et sinceram et tantum sui similem gentem exstitisse arbitrantur. Unde habitus quoque corporum, tamquam in tanto hominum numero, idem omnibus: truces et caerulei oculi, rutilae comae, magna corpora et tantum ad impetum valida: laboris atque operum non eadem patientia, minimeque sitim aestumque tolerare, frigora atque inediam caelo solove adsueverunt.
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[4] Ich selbst pflichte den Ansichten derjenigen bei, die meinen, dass die Völker Germaniens, durch keine gegenseitigen Heiraten mit anderen Stämmen verdorben, ein eigentümliches, reines und nur sich selbst ähnliches Volk seien. Daher ist auch allen trotz einer so großen Zahl an Menschen dieselbe äußere Erscheinung:
trotzige und blaue Augen, rotblondes Haar und große nur zum Kampf starke Leiber. Ihnen ist für Strapazen und Mühen nicht dieselbe Ausdauer und keineswegs sind sie es gewohnt, Durst und Hitze zu ertragen, Kälte und Hunger aufgrund des Klimas und Bodens aber schon.
| 5. Die ländliche Beschaffenheit Germaniens |
[5] Terra etsi aliquanto specie differt, in universum tamen aut silvis horrida aut paludibus foeda, umidior, qua Gallias, ventosior qua Noricum ac Pannoniam adspicit; satis ferax, frugiferarum arborum inpatiens, pecorum fecunda, sed plerumque improcera. Ne armentis quidem suus honor aut gloria frontis: numero gaudent, eaeque solae et gratissimae opes sunt. Argentum et aurum propitiine an irati di negaverint, dubito. Nec tamen adfirmaverim nullam Germaniae venam argentum aurumve gignere: quis enim scrutatus est? Possessione et usu haud perinde adficiuntur. Est videre apud illos argentea vasa, legatis et principibus eorum muneri data, non in alia vilitate quam quae humo finguntur; quamquam proximi ob usum commerciorum aurum et argentum in pretio habent formasque quasdam nostrae pecuniae adgnoscunt atque eligunt. Interiores simplicius et antiquius permutatione mercium utuntur. Pecuniam probant veterem et diu notam, serratos bigatosque. Argentum quoque magis quam aurum sequuntur, nulla adfectione animi, sed quia numerus argenteorum facilior usui est promiscua ac vilia mercantibus.
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[5] Obgleich sich das Land bezugs seiner Gestalt beträchtlich unterscheidet, ist es doch im Allgemeinen entweder rauh vor Wäldern oder gräßlich vor Sümpfen, feuchter, wo man Gallien, stürmiger wo man Noricum und Pannonien erblickt; das Land ist hinlänglich fruchtbar, ungeeignet für Fruchtbäume, reich an Vieh, doch meistens kleinwüchsig. Nicht einmal den Rindern ist ihre Zierde oder Schmuck der Stirn: sie freuen sich über die Anzahl, und dies ist ihnen der einzige und willkommenste Reichtum.
Darüber, ob aus Gnade oder Zorn die Götter ihnen Silber und Gold versagt haben, zweifle ich. Doch ich möchte nicht behaupten, dass keine Ader Germaniens Silber oder Gold hervorbringt: denn wer hat das überprüft? Der Besitz oder Gebrauch dessen macht ebenso keinen Eindruck auf sie.
Man kann bei jenen silberne Vasen, die Gesandten oder Fürsten zum Geschenk gegeben worden sind, in der gleichen Wertlosigkeit sehen wie jene, die aus Ton hergestellt werden. Gleichwohl die Benachbarten Gold und Silber wegen des Handelsverkehrs im Wert halten und einige Arten unseres Geldes anerkennen und auswählen. Die weiter innen Lebenden gebrauchen einfacher und altertümlicher noch den Tauschhandel-Sie schätzen das alte und lang bekannte Geld: Serraten und Bigaten. Auch an Silber halten sie mehr als an Gold fest, nicht aufgrund des Eindrucks auf ihr Gemüt, sondern weil eine Zahl von Silbermünzen bequemer für diejenigen zum Gebrauch ist, die Gewöhnliches und Billiges erhandeln.
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Anmerkungen und Hilfen
[1]
metu aut montibus separatur : ein typisch taciteisches Beispiel einer Inkonzinnität (Uneinklang), die sich in diesem Fall darin manifestiert, dass ein subjektives Gefühl auf gleiche Ebene mit einer objektiven physikalischen Tatsache gestellt wird und beide Begriffe auf gleiche Weise als Ursache für die Trennung angegeben werden.
[2]
nec terra olim, sed classibus : In der Antike nahm man an, dass Völkerwanderungen auf dem Schiffsweg stattfanden (vgl. die Auswanderung der Trojaner nach Italien).
unus genus memoriae et annalium : Hendiadyoin
vocentur : konsekutiver Nebensinn; auch oblique Auffassung möglich
Ceterum Germaniae vocabulum recens et nuper additum, quoniam, qui primi Rhenum transgressi Gallos expulerint ac nunc Tungri, tunc Germani vocati sint: ita nationis nomen, non gentis, evaluisse paulatim, ut omnes primum a victore ob metum, mox et a se ipsis invento nomine Germani vocarentur : Diese Stelle wirft die wohl größten Schwierigkeiten in der gesamten Germania auf, ist sie doch zugleich auch von so großer Wichtigkeit. Die Problematik liegt in dem Ausdruck „a victore ob metum“. Es sollen hier zunächst die Ansätze und Interpretationsmöglichkeiten erläutert werden, denen in dieser Übersetzung nicht gefolgt wird.
Abhängig ist dieser Satz wieder von den „quidam“. Auf den ersten Blick würde man wahrscheinlich a victore analog zu a se ipsis als Abl. auct. verstehen: ...dass alle zuerst vom Sieger (also von den Tungrern), dann von sich selbst „Germanen“ genannt wurden. Das ob metum müsste dann final aufgefasst werden, denn dass sich der Sieger fürchtet und daher all seine Stammesgenossen „Germanen“ nennt wäre unsinning. Es ist also so zu verstehen, dass die Tungrer, nachdem sie den Rhein überschritten und die Gallier vertrieben hätten, den Namen „Germanen“ erhalten hätten, diesen nach ihrem Sieg über die Gallier auf alle Völker östlich des Rheins (denn die Tunger hatten ihn ja gen Gallien überschritten) übertragen hätten, um Furcht bei den Galliern oder sonstwem zu verbreiten.
Dagegen sprechen im Wesentlichen zwei Dinge: Erstens ist es zweifelhaft, warum die Tungrer, wenn sie denn ohnehin schon die Gallier besiegt haben, ihren Namen auf all ihre Stammesgenossen übertragen sollten, um zusätzlich für Furcht zu sorgen: Ihr Sieg sollte dazu schon genug beigetragen haben. Zweitens ist die These von einer finalen Bedeutung der Präposition ob“ an dieser Stelle sehr gewagt, gebraucht Tacitus „ob“ doch sonst stets kausal [Vgl. hierzu die Aussagen Meissners und Büchners].
Eine weitere Möglichkeit ist die Annahme eines Textverderbnisses: bei a victore solle es sich um eine falsche Überlieferung handeln. So schlägt Grimm „a victo“ vor. Dann könne ob metum auch kausal aufgefasst werden: dass alle vom Besiegten aus Furcht „Germanen“ genannt wurden. Allerdings wäre es ungewöhnlich, dass ein Singular generalisierend für die Besiegten Gallier stände, weshalb ein a victis angebrachter wäre. Für diese Konjektur [Textverbesserung] spricht jedoch, dass durch sie die Parallellität der Ausdrücke a victis und a se ipsis als auctoriale Ablative hergestellt würde.
Der Überzeugung, der hier gefolgt wird, ist, dass a nicht zur Angabe des Urhebers benutzt, sondern zur Angabe dessen, wonach jemand benannt ist: also als Quelle der Benennung. Dies ist zwar dysharmonisch zu a se ipsis, derartige Inkonzinnitäten finden sich bei Tacitus aber zur Genüge. Der Sinn ist demnach, dass „alle“ (die Stammesgenossen der Tungrer) nach dem Namen des Siegers (der Tungrer) aus Furcht „Germanen“ genannt wurden, ebenweil die Tungrer eine solche Furcht durch ihren Einfall in Gallien verbreitet hatten. Dabei ist zwar nicht ausgesprochen, aber selbstverständlich gemeint, dass sie von den Besiegten so genannt wurden bzw. von denjenigen, die von dem Einfall wussten und sich deswegen fürchteten. Inhaltlich gesehen kommt diese Interpretation also auf dasselbe wie die vorherige, allerdings ohne eine Konjektur des Textes.
http://www.rhm.uni-koeln.de/088/Meissner.pdf
[3]
quo…intumescat : finaler Nebensinn [= ut eo]; eo als Ablativus mensurae
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