Vergil - Ecloge IV - Pollio


Ecloge IV



Pollio



In der vierten Ecloge, die in das Jahr 40 v. Chr. zu datieren ist, nimmt der Hirte die Funktion eines Weissagers ein: Er spricht von einem göttlichen Jungen, mit dem die düsteren Zeiten (das eiserne Zeitalter) verschwinden und goldene Zeiten, Zeiten des Friedens, anbrechen. Diese wunderbare neue Welt wird durch typisch bukolische Elemente geziert. Philosophisch liegt der Ecloge die Weltenzeitalter-Theorie von Hesiod zugrunde, die wiefolgt abläuft: Goldenes Zeitalter, Silbernes Zeitalter, Ehernes oder Erzenes Zeitalter, Zeitalter der Heroen, Eisernes Zeitalter. Vergil lässt in seiner Ecloge den Lauf von vorn beginnen (Vgl. Z. 5)

Um die Ecloge zu verstehen, sind die historischen Hintergründe zu kennen: Im Jahre 44 v. Chr. wurde Caesar von einer Gruppe Senatoren um Marcus Iunius Brutus und Gaius Cassius Longinus während einer Senatssitzungden ermordet. Damit wurde aber keinesfalls die Republik wiederhergestellt. Die Anhänger Caesar sannen auf Rache. So schlossen Antonius, Caesars Adoptivsohn Octavian und Lepidus im Jahr 43 v. Chr. das zweite Triumvirat. In der Schlacht bei Philippi 42. v. Chr. wurden die Caesarmörder weitestgehend ausgeschaltet, nur Pompeius Sextus blieb mit seiner Seeflotte übrig. Octavian erhielt nach der Schlacht die Aufgabe, die Veteranen der Heere in Oberitalien anzusiedeln.
Bald sollte das Triumvirat auf eine Probe gestellt werden (41/40 v. Chr.). Wegen der Landverteilung kam es zu schweren Differenzen mit Antonius’ Bruder Lucius, den Octavian aber im Perusinischen Krieg besiegte. Als Antonius daraufhin nach Italien zurückkehrte, verweigerten die Legionen beider Triumvirn jedoch den Kampf und zwangen sie zu einem erneuten Bündnis: der sog. Vertrag von Brundisium (40 v. Chr.). In diesem handelte Maecenas für Octavian, Pollio für Antonius den Vertrag aus. Octavian heiratete aus politischen Gründen Scribonia, eine Verwandte von Pompeius’ Sohn Sextus. Antonius heiratete Octavia, die Schwester Octavians. Es sah nach einer Versöhnung zwischen Octavian und Antonius aus. Da Pollio maßgeblich an den Friedensverhandlungen beteiligt war, widmete Vergil diesem wohl die Ecloge. Im Vertrag wurde ferner vereinbar, dass Octavian einen Ausgleich mit Sextus Pompeius suchen, im Falle des Scheiterns der Friedensbemühungen aber Krieg gegen ihn führen solle.


Wer ist nun dieser puer, von dem der Hirte singt? Es kommen einige Personen in Frage:
  • Einer der Söhne von Asinius Pollio
    Wenn Vergil dem Pollio diese Ecloge schon widmet, liegt es nahe, dass Vergil einen seiner Söhne mit dem puer meint. Oder auch nicht: Denn dann hätte er sicherlich einen Bezug zwischen dem puer und Pollio hergestellt.

  • Nachkomme von Antonius und Kleopatra
    Ein orientalischer, göttergleicher Heilsbringer? Man wusste zwar in Rom von der Romanze zwischen Antonius und Kleopatra, aber deren Kind kann Vergil schon aus ethnischen Gründen nicht gemeint haben.

  • Nachkomme von Antonius und Octavia
    Zwar liegt diese Vermutung näher als die vorige, doch hatte Vergil keinen Grund Antonius, auch wenn er zu dem Zeitpunkt der mächtigste des Triumvirats war, oder dessen Nachwuchs mit göttlichen Vorstellungen in Verbindung zu bringen.

  • Nachkomme von Octavian und Scribonia
    Am 1. Januar 42 erklärte der Senat Caesar zum Divus Julius. Wie bekannt, war Octavian der Adoptivsohn Caesars. So nannte sich Octavian nach seines Vaters Apotheose C. Iulius divi filius Caesar, um einiges göttliches Licht auf seine eigene Person zu lenken. Wenn nun Octavian sich göttlich nennen darf, so würde dieser göttliche Glanz auch auf seinen Sohn abschimmern. Der Hirte singt in der Ecloge von einer durch den Vater befriedeten Welt (Z. 17) und von Kriegen, die noch zu führen seien (Z. 31-36). Wenn man Octavians Erfolge gegen die Republikaner, sowie die Versöhnung mit Antonius als Schritte zum Frieden interpretiert, die Spuren alter Tücke als letztes Überbleibsel der Caesarmörder, nämlich Pompeius mit seiner Seeflotte, auffasst, würden auch diese Verse für einen Sohn Octavians sprechen.
    Zwar bekam Octavian niemals einen Sohn, doch das konnte Vergil im Jahre 40 v. Chr. nicht wissen, denn Octavians Tochter Julia wurde erst 39 n. Chr. geboren. Vergil wusste also allenfalls von der Schwangerschaft Scribonias.

  • Octavian selbst

  • Jesus Christus







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Sicelides Musae, paulo maiora canamus.
non omnis arbusta iuvant humilesque myricae;
si canimus silvas, silvae sint consule dignae.
Ultima Cumaei venit iam carminis aetas;
magnus ab integro saeclorum nascitur ordo.
iam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna,
iam nova progenies caelo demittitur alto.
tu modo nascenti puero, quo ferrea primum
desinet ac toto surget gens aurea mundo,
casta fave Lucina; tuus iam regnat Apollo.


Teque adeo decus hoc aevi, te consule, inibit,
Pollio, et incipient magni procedere menses;
te duce, si qua manent sceleris vestigia nostri,
inrita perpetua solvent formidine terras.
ille deum vitam accipiet divisque videbit
permixtos heroas et ipse videbitur illis
pacatumque reget patriis virtutibus orbem.


At tibi prima, puer, nullo munuscula cultu
errantis hederas passim cum baccare tellus
mixtaque ridenti colocasia fundet acantho.
ipsae lacte domum referent distenta capellae
ubera nec magnos metuent armenta leones;
ipsa tibi blandos fundent cunabula flores.
occidet et serpens et fallax herba veneni
occidet; Assyrium vulgo nascetur amomum.

At simul heroum laudes et facta parentis
iam legere et quae sit poteris cognoscere virtus,
molli paulatim flavescet campus arista
incultisque rubens pendebit sentibus uva
et durae quercus sudabunt roscida mella.

Pauca tamen suberunt priscae vestigia fraudis,
quae temptare Thetin ratibus, quae cingere muris
oppida, quae iubeant telluri infindere sulcos.
alter erit tum Tiphys et altera quae vehat Argo
delectos heroas; erunt etiam altera bella
atque iterum ad Troiam magnus mittetur Achilles.

Hinc, ubi iam firmata virum te fecerit aetas,
cedet et ipse mari vector nec nautica pinus
mutabit merces; omnis feret omnia tellus.
non rastros patietur humus, non vinea falcem,
robustus quoque iam tauris iuga solvet arator;
nec varios discet mentiri lana colores,
ipse sed in pratis aries iam suave rubenti
murice, iam croceo mutabit vellera luto,
sponte sua sandyx pascentis vestiet agnos.


'Talia saecla' suis dixerunt 'currite' fusis
concordes stabili fatorum numine Parcae.

Adgredere o magnos—aderit iam tempus—honores,
cara deum suboles, magnum Iovis incrementum.
aspice convexo nutantem pondere mundum,
terrasque tractusque maris caelumque profundum;
aspice, venturo laetantur ut omnia saeclo.

O mihi tum longae maneat pars ultima vitae,
spiritus et, quantum sat erit tua dicere facta:
non me carminibus vincat nec Thracius Orpheus
nec Linus, huic mater quamvis atque huic pater adsit,
Orphei Calliopea, Lino formosus Apollo.
Pan etiam, Arcadia mecum si iudice certet,
Pan etiam Arcadia dicat se iudice victum.


Incipe, parve puer, risu cognoscere matrem;
matri longa decem tulerunt fastidia menses.
incipe, parve puer. Qui non risere parenti,
nec deus hunc mensa dea nec dignata cubili est.



Sizilische Musen, lasst uns von ein wenig höherem singen!
Nicht alle erfreuen Büsche und niedrige Tamarisken.
Wenn wir von Wäldern singen, mögen sie des Konsuls würdig sein.
Das letzte Zeitalter des kumäischen Gedichts ist schon gekommen.
Die große Ordnung der Zeit wird von Neuem geboren.
Schon kehren Astraea und die saturnische Herrschaft zurück.
Alsbald wird ein junges Kind vom hohen Himmel herabgelassen.
Seiest nur du, keusche Lucina, günstig dem Knaben, wenn er geboren wird, durch den zuerst das eiserne Zeitalter aufhören und sich dann ein goldenes Geschlecht für die ganze Welt erheben wird. Begünstige ihn, keusche Lucina. Dein Apollo herrscht bereits.

Und diese Herrlichkeit der Zeit wird mit dir, ja mit dir als Konsul, Pollio, beginnen und große Monate werden beginnen voranzuschreiten;
Unter deiner Führung werden die Spuren unseres Verbrechens, sofern irgendwelche bleiben, nach ihrer Annullierung die Erde von beständiger Furcht erlösen.
Jener wird ein göttliches Leben empfangen und wird Heroen, vermischt mit Göttern, sehen, wird selbst von jenen gesehen und den durch die väterlichen Tugenden befriedeten Erdkreis beherrschen.

Aber dir, Knabe, wird die Erde, zuerst ohne Bebauung, kleine Geschenke hervorbringen: überall hin umherirrendes Efeu mit Baldrian und ägyptische Bohnen vermischt mit lachendem Bärenklau.
Selbst die Ziegen werden vor Milch strotzende Euter nach Hause zurückschaffen und die Rinder werden die großen Löwen nicht fürchten.
Selbst die Wiege wird dir reizende Blumen hervorbringen.
Zugrunde gehen werden auch die Schlange und die trügerische Pflanze des Gifts; In der ganzen Welt wird assyrisches Amomum wachsen.

Aber sobald du es vermocht haben wirst, die Lobeserhebungen auf die Heroen und des Vaters Taten zu lesen und zu erfahren, was Tatkraft ist, wird allmählich das Feld mit sanfter Ähre vergoldet werden und rot wird die Traube am wilden Dornenbusch hängen und harte Eichen werden tauigen Honig von sich geben.

Doch werden einige wenige Spuren alter Tücke dabei sein, die gebieten werden, das Meer mit Schiffen zu versuchen, die Städte mit Mauern zu umgürten und Furchen der Erde einzuschneiden.
Dann wird es einen anderen Tiphys und eine andere Argo geben, die die ausgewählten Helden befördern werden. Auch wird es andere Kriege geben und wiederholt wird man den großen Achilles nach Troja schicken.

Dann, wenn dich das schon gekräftigte Alter zum Mann gemacht haben wird, wird der Seefahrer selbst dem Meere weichen und kein Schiff mehr Waren vertauschen; Alles Land wird alle Sachen hervorbringen.
Nicht mehr wird der Boden den Karst, nicht mehr der Weinberg das Winzermesser dulden und auch der rüstige Pflüger wird das Joch von den Stieren lösen.
Und die Wolle wird nicht mehr lernen verschiedene Farben zu lügen, sondern der Widder selbst auf den Wiesen wird das Fell lieblich bald zu rötlichem Purpur, bald zu safranartigem Gelb färben, der Sandyx wird von allein die weidenden Schafe kleiden.

Einträchtig mit standhaftem Willen des Schicksals sagten die Parzen ihren Spindeln: „Derartige Zeiten, beeilt euch!“

O beginn die großen Ehren – die Zeit wird alsbald kommen – werter Sprössling der Götter, Juppiters edler Nachwuchs.
Schau, die Welt verändert sich durch ihre gewölbte Last,
die Länder, der Lauf des Meeres und der unermessliche Himmel.
Schau, wie alles sich freut an der Zeit, die kommen wird.

O, möge dann der letzte Teil meines langen Lebens und mein Atem fortdauern, wie lang es genug sein wird, deine Taten zu verkünden.
Nicht der thrazische Oprheus oder Linus möge mich im Liede bezwingen, oblgleich diesem die Mutter und jenem der Vater hilft, dem Orpheus die Calliope, dem Linus der schöne Apollo.
Pan sogar, wenn er mit mir unter Richterschaft Arkadiens wettstreiten sollte, dann würde Pan sogar sagen, dass er unter Richterschaft Arkadiens besiegt worden sei.

Fang an, kleiner Junge, deine Mutter an ihrem Lächeln zu erkennen.
Zehn Monate brachten deiner Mutter lange Qualen.
Fang an, kleiner Junge. Wer seiner Mutter nicht zugelächelt hat, den hielt kein Gott seines Tisches und keine Göttin ihres Nachtlagers für würdig.


Hilfen zur Übersetzung

(5) ab integro : öfter ex integro „von Neuem“
(27) quae : indirekte Frage, abhängig von cognoscere
(31) suberunt : Futur von subesse (unter etw. sein, dabei sein)
(34) Tiphys ist der Steuermann des Schiffes „Argo“, auf dem mehrere griechische Helden unter Führung Jasons nach Kolchis am Ostufer des Schwarzen Meeres fuhren, um dort das goldene Vlies zu rauben.
(37) ubi : temporales „wenn“
(64) dignata est : Deponenz (dignari); jmd. (Akk.) einer Sache (Abl.) für würdig halten: deus hunc mensa dignatus est.



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