Horaz - Oden - liber quartus - Carmina 1-7 - Deutsche Übersetzung


Oden IV - Carmina 1-7



[1] Ligurinus
[2] Pindar
[3] Melpomene
[4] Drusus
[5] Augustus
[6] Apollo und Diana
[7] Torquatus



Carmen I - Ligurinus - Versmaß: vierte asklepiadeische Strophe







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Intermissa, Venus, diu
rursus bella moves? Parce precor, precor.
Non sum, qualis eram bonae
sub regno Cinarae. Desine, dulcium

mater saeva Cupidinum,
circa lustra decem flectere mollibus
iam durum imperiis: abi,
quo blandae iuvenum te revocant preces.

Tempestivius in domum
Pauli purpureis ales oloribus
comissabere Maximi,
si torrere iecur quaeris idoneum;

namque et nobilis et decens
et pro sollicitis non tacitus reis
et centum puer artium
late signa feret militiae tuae,

et, quandoque potentior
largi muneribus riserit aemuli,
Albanos prope te lacus
ponet marmoream sub trabe citrea.

Illic plurima naribus
duces tura, lyraque et Berecyntia
delectabere tibia
mixtis carminibus non sine fistula;

illic bis pueri die
numen cum teneris virginibus tuum
laudantes pede candido
in morem Salium ter quatient humum.

Me nec femina nec puer
iam nec spes animi credula mutui
nec certare iuvat mero
nec vincire novis tempora floribus.

Sed cur heu, Ligurine, cur
manat rara meas lacrima per genas?
Cur facunda parum decoro
inter verba cadit lingua silentio?

Nocturnis ego somniis
iam captum teneo, iam volucrem sequor
te per gramina Martii
campi, te per aquas, dure, volubilis.



Venus, erweckst du den lange Zeit unterbrochenen Krieg wieder? Bitte verschon‘ mich, bitte.
Ich bin nicht, wie ich war unter der Herrschaft der gütigen Cinara.

Hör auf, wilde Mutter der süßen Begierden, mich, der ich an die fünfzig Jahre schon an Entsagung gewöhnt, mit deinen sanften Befehlen zu erweichen: geh fort, wohin dich die schmeichelhaften Bitten der Jünglinge rufen.

Geeigneter wirst du beflügelt mit purpurnen Schwänen ins Haus des Paulus Maximus einziehen, wenn du eine passende Leber zu entflammen suchst;

denn er ist edel und anmutig, nicht schweigsam, wenn Beklagte beunruhigt sind, er ist ein Junge von hundert Künsten und wird in deinem Kriegsdienst die Banner tragen,

und, wenn er mächtiger über die Geschenke seines freigebigen Nebenbuhlers gelacht haben wird, dann wird er dich als Marmorstatue nahe dem albanischen See unter einen Zitronenbaum setzen.

Dort wirst du sehr viel Weihrauchen riechen, und dich an Lyra und berecynthischer Flöte erfreuen, an Gedichten in Begleitung mit der Hirtenpfeife;

dort werden zweimal am Tag Knaben zusammen mit jungen Mädchen dein göttliches Wesen preisen und nach Art der Salier dreimal baren Fußes die Erde stampfen.

Weder Weib, noch Knab‘ erfreuen mich, auch nicht mehr die arglose Hoffnung auf wechselseitige Lust; weder macht es mir Spaß mich zu besaufen, noch meine Schläfen mit frischen Blumen zu umkränzen.

Aber warum, ach, Ligurinus, warum fließt selten eine Träne über meine Wangen? Warum fällt beim Sprechen meine einst so beredte Zunge dem zu wenig geziemenden Schweigen anheim?

In nächtlichen Träumen halte ich dich bald umschlossen, bald folge ich dir flüchtigem durch das Gras des Marsfeldes, dir, o hartherziger, durch die wälzenden Fluten.




Hilfen zur Übersetzung

(11)
comissabere : [ = commissaberis] eig. „nach einem Gelage betrunken umherziehen“

(12)
iecur : der Römer war der Meinung, die Leber sei der Sitz sinnlicher Affekte

(16)
militiae tuae : Lokativ

(18)
muneribus riserit : gewöhnlich steht ridere mit Akkusativ, wenn es heißt „über jmd. lachen, jmd. auslachen“; man kann die Stelle so interpretieren, dass muneribus ein zum Verb gehöriger Abl. causae ist, so wie auch gaudere, laetari oder delectari (cf. v. 22-24) mit diesem verbunden werden.

(20)
marmoream : prädikativ zu te

(24-26)
pueri […] cum teneris virginibus […] laudantes : Zeugma (Syllepse), sinngemäß ist laudantes auch auf virginibus zu beziehen

(36)
inter verba : zeitlich zu verstehen „mitten in den Worten, während ich spreche“



Carmen II - Pindar - Versmaß: erste sapphische Strophe







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Pindarum quisquis studet aemulari,
Iulle, ceratis ope Daedalea
nititur pinnis, vitreo daturus
nomina ponto.

Monte decurrens velut amnis, imbres
quem super notas aluere ripas,
fervet inmensusque ruit profundo
Pindarus ore,

laurea donandus Apollinari,
seu per audacis nova dithyrambos
verba devoluit numerisque fertur
lege solutis,

seu deos regesque canit, deorum
sanguinem, per quos cecidere iusta
morte Centauri, cecidit tremendae
flamma Chimaerae,

sive, quos Elea domum reducit
palma caelestis, pugilemve equumve
dicit et centum potiore signis
munere donat,

flebili sponsae iuvenemve raptum
plorat et viris animumque moresque
aureos educit in astra nigroque
invidet Orco.

Multa Dircaeum levat aura cycnum,
tendit, Antoni, quotiens in altos
nubium tractus; ego apis Matinae
more modoque

grata carpentis thyma per laborem
plurimum circa nemus uvidique
Tiburis ripas operosa parvus
carmina fingo.

Concines maiore poeta plectro
Caesarem, quandoque trahet ferocis
per sacrum clivum merita decorus
fronde Sygambros;

quo nihil maius meliusve terris
fata donavere bonique divi
nec dabunt, quamvis redeant in aurum
tempora priscum.

Concines laetosque dies et urbis
publicum ludum super impetrato
fortis Augusti reditu forumque
litibus orbum.

Tum meae, si quid loquar audiendum,
vocis accedet bona pars, et: 'O sol
pulcher, o laudande!' canam recepto
Caesare felix;

teque, dum procedis, io Triumphe!
non semel dicemus, io Triumphe!
civitas omnis, dabimusque divis
tura benignis.

Te decem tauri totidemque vaccae,
me tener solvet vitulus, relicta
matre qui largis iuvenescit herbis
in mea vota,

fronte curvatos imitatus ignis
tertium lunae referentis ortum,
qua notam duxit, niveus videri,
cetera fulvus.



Wer auch immer sich anschickt, Pindarus nachzueifern, Jullus, stemmt sich mit Hilfe des Ikarus auf wächserne Flügel, und ist dazu bestimmt, dem schimmernden Meer Namen zu geben.

Wie ein vom Berge herablaufender Strom, den über sein gewöhnliches Ufer hinaus Regen hat genährt, wallt und stürzt unermesslich Pindar aus unerschöpflicher Quelle,

der zu beschenken ist mit apollinarischem Lorberkranz, ob er nun in kühnen Dithyramben Worte herabwälzt und durch Verse losgelöst von Gesetzmäßigkeit getragen wird,

oder ob er Götter und Könige besingt, das Geblüt der Götter, durch welche die Zentauren rechtmäßigen Todes starben, der schrecklichen Chimäre Flamme erlisch,

oder ob er vom Faustkämpfer oder dem Pferd kündet, welche als Göttliche die Siegespalme nach Hause zurückführt, und sie mit einer Gabe beschenkt die wertvoller als 100 Statuen,

oder ob er den Jüngling bejammert, der der beweinenswerten Verlobten entrissen, und seinen Mut und glänzenden Charakter bis zu den Sternen lobt und ihn dem schwarzen Orcus missgönnt.

Ein kräftiger Luftzug hebt den dirkäischen Schwan empor, so oft er, Antonius, in hohe Himmelsgefilde fliegt; nach Art und Sitte der matinischen Biene,

die den angenehmen Thymian durch sehr viel Arbeit in der Umgebung der Wälder und Ufer des feuchten Tiburs sammelt, dichte ich als kleiner Geist meine mühevollen Lieder.

Du als Dichter mächtigerer Lyrik wirst Caesar besingen, wann auch immer er geschmückt mit verdientem Laubkranze die wilden Sugambrer auf der heiligen Straße bergauf führen wird;

Nichts größeres und besseres als diesen hat der Erde das Schicksal geschenkt und nichts größeres und besseres werden die Göttern schenken, auch wenn die Zeiten in das alte goldene Zeitalter zurückkehren.

Du wirst fröhliche Tage, öffentliches Spiel der Stadt, weil man durch Gebete die Rückkehr des tapferen Augustus erlangt hat, und das streitlose Forum im Liede preisen.

Dann wird, wenn ich von etwas Hörenswertem sprechen soll, ein guter Teil meiner Stimme hinzukommen, und ich werde glücklich über Caesars Rückkehr „O du schöner Tag, O du lobenswerter!“ singen;

Und während du daherschreitest, werden wir, die ganze Stadt, dich – Triumph juchhe! – nicht nur einmal besingen – Triumph juchhe! – und wir werden den gütigen Göttern Weihrauch spenden.

Dich werden zehn Stiere und ebenso viele Kühe vom Gelübde entbinden, mich ein junges Kalb, das – nachdem es von der Mutter zurückgelassen ward – auf üppigen Wiesen zu meinem Gelübde heranwächst

und mit seiner Stirn das gekrümmte Feuer des Mondes, der zum dritten Mal aufgeht, nachahmt, schneeweiß anzuschauen, wo es sein Mal bekommen hat, was das übrige betrifft, braungelb.




Hilfen zur Übersetzung

(3-4)
vitreo daturus / nomina ponto : sc. Ικάριο πέλαγος, mare Icarium

(7)
inmensus : prädikativ, im Dt. adverbiell

(8)
ore : metonymisch, „Mund“ i. S. v. „Quelle, Mündung“

(13-14)
deorum / sanguinem : appositiv zu reges

(14-15)
iusta / morte : instrumentaler Ablativ

(15-16)
cecidit tremendae / flamma Chimaerae : die Rede ist von der Sage des Βελλεροφῶν

(17-18)
quos Elea domum reducit /palma caelestis : Personifikation; caelestis (Akk. Pl. m.) bezieht sich prädikativ auf das kataphorische quos, was wiederum pugilem und equum aufgreift

(26)
tendit : hier „einen Ort anstreben / irgendwohin gelangen wollen“

(26-27)
in altos / nubium tractus : wortwörtlich „in hohe Gegenden der Wolken”

(29)
thyma : von thymum –i, n. „Thymian”

(31)
parvus : prädikativ zu ego

(33)
Concines : sc. Iullus Antonius (Pindar ist schon seit Jahrhunderten tot)

(39-40)
quamvis redeant in aurum / tempora priscum : hinter aurum priscum ist tempus zu ergänzen (Zeugma, Syllepsis)

(42-43)
super impetrato / fortis Augusti reditu : super als Präposition mit dem Abl. hier in der Bedeutung „wegen, in Betreff”

(47-48)
recepto / Caesare felix : von felix abhängiger Abl. causae; recipere ist hier medial gebraucht „sich zurückziehen / zurückkehren“; das Partizip hat dominanten Charakter

(53-54)
Te decem tauri totidemque vaccae, / me tener solvet vitulus : sinngemäß ist das später in Vers 56 auftauchende vota auch zu diesen beiden Ausdrücken in Form von (a) voto (separativer Ablativ) zu ergänzen (Zeugma, Syllepsis)

(55)
largis iuvenescit herbis : der Ablativ ist eigentlich instrumental „durch reichlich Grün heranwachsen“

(58)
referentis : kurzes -i

(59)
notam : Brandmal (?)
niveus videri : [ = visu]; normalerweise steht ein Ablativus limitationis oder eine bedeutungsgleiche Konstruktionen wie ad + Akk., um die Hinsicht anzugeben, in der etwas gilt – hier erscheint ausnahmsweise der Infinitiv; siehe die parallele Struktur zu cetera fulvus

(60)
cetera fulvus : cf (v. 59); cetera ist limitativer Akkusativ (Accusativus Graecus)



Carmen III - Dank an Melpomene - Versmaß: vierte asklepiadeische Strophe







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Quem tu, Melpomene, semel
nascentem placido lumine videris,
illum non labor Isthmius
clarabit pugilem, non equus impiger

curru ducet Achaico
victorem, neque res bellica Deliis
ornatum foliis ducem,
quod regum tumidas contuderit minas,

ostendet Capitolio;
sed quae Tibur aquae fertile praefluunt
et spissae nemorum comae
fingent Aeolio carmine nobilem.

Romae, principis urbium,
dignatur suboles inter amabilis
vatum ponere me choros,
et iam dente minus mordeor invido.

O testudinis aureae
dulcem quae strepitum, Pieri, temperas,
o mutis quoque piscibus
donatura cycni, si libeat, sonum,

totum muneris hoc tui est,
quod monstror digito praetereuntium
Romanae fidicen lyrae;
quod spiro et placeo, si placeo, tuum est.



Wen du, Melpomene, bei seiner Geburt mit sanften Augen angeblickt hast, den wird keine isthmische Müh‘ als Faustkämpfer verherrlichen, kein rastloses Pferd

als Sieger in achäischem Wagen ziehen, und das Kriegswesen nicht als Führer, mit delischem Laub geschmückt, dem Kapitol zeigen, weil er die aufgeblasenen Drohungen der Könige zerschmettert hat;

aber die Wasser, die am fruchtbaren Tibur vorbeifließen, und das dichte Haar der Wälder werden ihn durch äolisches Dichtung berühmt machen.

Der Nachwuchs Roms, der ersten aller Städte, hält es für würdig, mich unter die lieblichen Chöre der Sänger einzureihen, und schon nagt neidischer Zahn weniger an mir.

O Muse, die du den süßen Ton der goldenen Lyra ins gehörige Maß bringst, die du, wenn es dir belieben sollte, sogar den stummen Fischen den Klang des Schwans verleihen kannst,

dies ganze, dass der Vorbeigehende mit seinem Finger auf mich, den Dichter des römischen Lieds, zeigt, ist Werk deiner Gnade; dass ich als Dichter lebe und gefalle, wenn ich gefalle, ist dein.




Hilfen zur Übersetzung

(2)
videris : Futur II

(4, 6, 7)
pugilem […] victorem […] ducem : allesamt prädikativ auf illum zu beziehen

(8)
contuderit : Futur II

(12)
fingent : add. illium

(13)
principis : der (dem Range nach) ersten

(16)
dente minus mordeor invido : Horaz hatte viele Neider, die seine innovative Dichtung ablehnten

(18)
Pieri : Vokativ (kurzes –i) von Pieris; eig. eine Tochter des Pieros bezeichnend; da dieser seine neun Töchter aber nach den Musen benannte, steht Pieris hier metonymisch für eine richtige Muse und zwar die eingangs erwähnte Melpomene, der diese Ode gewidmet ist.

(20)
donatura : bezogen auf das Subjekt in temperas; der futurische Charakter wird in der Übersetzung mit „können“ aufgeschlüsselt
si libeat : potential

(21)
muneris […] tui : prädikativer Genitivus possessivus

(22)
quod monstror […] : explikatives quod (zu hoc totum)

(24)
quod spiro […] : quod-Satz als Subjekt zu est



Carmen IV - Drusus - Versmaß: alkäische Strophe







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Qualem ministrum fulminis alitem,
cui rex deorum regnum in avis vagas
permisit expertus fidelem
Iuppiter in Ganymede flavo,

olim iuventas et patrius vigor
nido laborum protulit inscium
vernique iam nimbis remotis
insolitos docuere nisus

venti paventem, mox in ovilia
demisit hostem vividus impetus,
nunc in reluctantis dracones
egit amor dapis atque pugnae;

qualemve laetis caprea pascuis
intenta fulvae matris ab ubere
iam lacte depulsum leonem
dente novo peritura vidit:

videre Raetis bella sub Alpibus
Drusum gerentem Vindelici - quibus
mos unde deductus per omne
tempus Amazonia securi

dextras obarmet, quaerere distuli,
nec scire fas est omnia - sed diu
lateque victrices catervae
consiliis iuvenis revictae

sensere, quid mens rite, quid indoles
nutrita faustis sub penetralibus
posset, quid Augusti paternus
in pueros animus Nerones.

Fortes creantur fortibus et bonis;
est in iuvencis, est in equis patrum
virtus neque inbellem feroces
progenerant aquilae columbam;

doctrina sed vim promovet insitam
rectique cultus pectora roborant;
utcumque defecere mores,
indecorant bene nata culpae.

Quid debeas, o Roma, Neronibus,
testis Metaurum flumen et Hasdrubal
deuictus et pulcher fugatis
ille dies Latio tenebris,

qui primus alma risit adorea,
dirus per urbes Afer ut Italas
ceu flamma per taedas vel Eurus
per Siculas equitavit undas.

Post hoc secundis usque laboribus
Romana pubes crevit et impio
uastata Poenorum tumultu
fana deos habuere rectos;

dixitque tandem perfidus Hannibal:
'Cervi, luporum praeda rapacium,
sectamur ultro, quos opimus
fallere et effugere est triumphus.

Gens, quae cremato fortis ab Ilio
iactata Tuscis aequoribus sacra
natosque maturosque patres
pertulit Ausonias ad urbes,

duris ut ilex tonsa bipennibus
nigrae feraci frondis in Algido,
per damna, per caedes ab ipso
ducit opes animumque ferro.

Non hydra secto corpore firmior
vinci dolentem crevit in Herculem,
monstrumve submisere Colchi
maius Echioniaeve Thebae.

Merses profundo, pulchrior evenit;
luctere, multa proruet integrum
cum laude victorem geretque
proelia coniugibus loquenda.

Carthagini iam non ego nuntios
mittam superbos; occidit, occidit
spes omnis et fortuna nostri
nominis Hasdrubale interempto.

Nil Claudiae non perficient manus,
quas et benigno numine Iuppiter
defendit et curae sagaces
expediunt per acuta belli'.



Wie den geflügelten Beförderer des Blitzes, dem Jupiter, der König der Götter, die Herrschaft über die umherschweifenden Vögel gewährte, nachdem er dessen Treue beim blonden Ganymed erprobt hatte,

einst jugendlicher Mut und vom Vater ererbte Lebenskraft unkundig der Mühen aus dem Nest forttrugen und ihn in Angst Frühlingswinde sofort nach dem Wegziehen der Sturmwolken das ungewohnte Fliegen lehrten,

wie ihn bald darauf ein mächtiger Sturzflug als Feind auf den Schafstall herabschießen lässt, und ihn nun seine Gier auf Schmaus‘ und Kampf gegen Widerstand leistende Schlangen trieb;

oder wie ein Reh, das mit fröhlichen Wiesen beschäftigt, einen Löwen, gerade von Milch und Euter der gelbgoldenen Mutter entwöhnt, sieht und dazu verdammt ist, durch des Löwens jungen Zahn zu sterben:

so sahen die Vindeliker Drusus am Fuße der rätischen Alpen Kriege führen – woher ihre Sitte abgeleitet ist, dass sie die ganze Zeit lang ihre Recht mit einer amazonischen Axt bewaffnen,

hab ich zu erfragen aufgeschoben; man kann auch nicht alles wissen – aber diese lange Zeit und auf breiter Front siegreichen Truppen wurden durch das Kalkül eines jungen Mannes niedergesiegt

und mussten spüren, was Geisteskraft, was Begabung, wenn sie gehörig unter günstigem Dach gefördert, ausrichten konnten, was des Augustus väterliches Herz für seine Stiefsöhne, die Neronen, vermochte.

Von den Tapferen und Guten werden die Tapferen erschaffen; in Stieren und Pferden lebt der Väter Tatkraft und niemals bringen wilde Adler ruhige Tauben hervor;

Aber nur Unterricht fördert angeborene Geisteskraft und richtige Erziehung kräftigt das Bewusstsein; wie nur immer gute Sitten fehlen, entstellen Laster die guten Anlagen.

Was du, O Rom, den Neronen schuldest, bezeugen der metaurische Fluss und der besiegte Hasdrubal und jener schöne Tag, nachdem die Dunkelheit aus Latium ward vertrieben,

der als erster vor holdem Ruhm lachte, seit der grausame Afrikaner durch die italischen Städte ritt, wie eine Flamme durch Fichtengehölz oder der Ostwind über Siziliens Meer.

Seitdem wuchs die römische Jugend durch günstige Strapazen immer weiter heran und die durch den gottlosen Aufruhr der Punier verwüsteten Heiligtümer hatten ihre Götter wieder aufrecht stehend;

Und hinterhältig sagte Hannibal schließlich: „Als Hirsche, die Beute räuberischer Wölfe, jagen wir diejenigen von selbst, denen listig zu entfliehen schon ein herrlicher Triumph ist.

Das Volk, das tapfer vom verbrannten Ilion, umhergetrieben auf tuskischem Meer, Heiligtümer, Söhne und alte Männer zu den ausonischen Städten trug,

wie eine Eiche auf dem dunkel-laubigen, fruchtbaren Algidus, von einer rauhen Doppelaxt behauen, trotz Schäden und Schlägen vom Eisen selbst Kraft und Mut zieht.

Weder wuchs die Hydra, nachdem ihr Körper zerschnitten, kräftiger gegen Herkules, den es schmerzte, besiegt zu werden, noch brachten Kolchis oder Echions Theben ein größeres Monster hervor.

Auch wenn du’s tief ins Meer versenkst, kommt’s doch schöner hervor; magst du auch kämpfen, den frischen Sieger wird es mit viel Ruhm niederringen und Schlachten austragen, von denen ihre Frauen erzählen werden.

Karthago werde ich jetzt keine stolzen Botschaften mehr schicken; verloren, verloren ist all unsere Hoffnung und das Glück unseres Namens, da Hasdrubal uns ward genommen.

Nichts werden die claudischen Hände nicht zustande bringen, die sowohl Juppiter mit seiner gütigen Macht verteidigt als auch scharfsinnige Umsicht glücklich durch die Gefahren des Krieges leitet.“




Hilfen zur Übersetzung

(1)
ministrum fulminis alitem : siehe (v. 4)

(3)
fidelem : prädikativ ministrum (aquilam), sinngemäß zu denken

(4)
in Ganymede flavo : Jupiters ließ Ganymed durch seinen Adler in den Himmel holen

(6)
inscium : prädikativ zu ministrum

(8)
nisus : langes –u, also Akk. Pl. von nisus, was hier „das Fliegen“ heißt

(9)
paventem : prädikativ zu ministrum
in ovilia : add. stabula

(14-15)
ab ubere / iam lacte depulsum : schwierige Stelle; hängen zwei separative Ablative von depulsum ab? In Einzelform gibt es diese Verbindungen nämlich jeweils bei Verg. georg. 3, 187 und Verg. ecl. 7, 15 – oder ist ubere adjektvisch zu lacte gebraucht, wobei iam dann sehr sperrend-destruktiv wirken würde; oder ist ab ubere sogar zu caprea, dem Reh, zu ziehen? Letzteres halte ich für am unwahrscheinlichsten, vor allem weil fulvus in Verbindung mit leo (cf. Verg. Aen. 2, 722; 4, 159), nicht aber mit caprea belegt ist.

(17-18)
videre […] / Drusum gerentem : [ = viderunt]; zieht den AcP Drusum gerentem nach sich

(18-22)
quibus
mos unde deductus per omne
tempus Amazonia securi
dextras obarmet, quaerere distuli,
nec scire fas est omnia
: fragwürdige Passage, wahrscheinlich nicht von Horaz selbst; verschränkt durch das Relativum quibus [ = quorum), sowie deductus, was eigentlich das Prädikat der indirekten Frage sein sollte, die durch quaerere distuli eingeleitet wird; mos muss Subjekt zu obarmet sein; insgesamt scheint diese Parenthese auch irgendwie falsches Latein zu sein.

(25)
rite : auf nutrita zu beziehen; meint hier „so wie es sich gehört, in richtigem Maße”

(27)
quid Augusti […] : add. posset

(36)
bene nata : „das auf gute Weise Geborene”

(39-40)
fugatis / […] Latio tenebris : Ablativus absolutes

(42)
ut : temporal (gleichzeitig)

(42-44)
dirus per urbes Afer ut Italas
ceu flamma per taedas vel Eurus
per Siculas equitavit undas
: equitavit ist sowohl Prädikat des temporalen ut-Satzes als auch der ceu-Vergleichssätze – Zeugma (Syllepsis); im Vergleichssatz würde eigentlich equitat benötigt werden, wenn die Aussage allgemein gemein ist; außerdem passt equitare semantisch im Vergleichssatz – zumindest zu flamma – nicht

(48)
fana deos habuere rectos : [ = habuerunt]; rectos (aufgerichtet, nachdem die Götterstatuen zuvor von den Karthagern umgestoßen worden waren) prädikativ zu deos; andere Interpretation mit attributivem rectos: „hatten ihre richtigen Götter zurück“, nachdem sie zuvor von den Karthagern mit den „falschen“ Göttern besetzt waren.

(50)
cervi, luporum : sc. Punii et Romani (Metapher)

(51-52)
quos opimus / fallere et effugere est triumphus : quos bezieht sich zurück auf ein sinngemäß zu ergänzendes lupos und ist jeweils Akkusativobjekt zu fallere und effugere, die ein Hendiadyoin bilden; effugere est triumphus ist ein Oxymoron bzw. eine Antithese

(58)
nigrae […] frondis : Genitivus qualitatis zu in Algido

(62)
vinci dolentem : dolere hier mit Objektsinfinitiv

(65)
Merses profundo : coniunctivus concessivus; profundo Abl. instrumenti oder Dativ (?); Subjekt ist gens (v. 53), sc. Roma

(66)
luctere : Kurzform von lucteris (v. luctari „ringen, kämpfen”), ebenfalls coniunctivus concessivus

(66-67)
multa […] / cum laude : Ablativus modi
integrum / […] victorem : sc. Carthaginem

(68)
proelia coniugibus loquenda : coniugibus ist Dat. auctoris; loquenda als Partizip Futur Passiv ohne den Begriff der Notwendigkeit

(73)
Claudiae […] manus : sc. Gaius Claudius Nero, dem – unter anderem als Konsul im Jahr 207 v. Chr. bei der Vernichtung des Hasdrubal – eine Schlüsselrolle im zweiten punischen Krieg zukam.

(76)
expediunt : metaphorisch; „glücklich hindruchführen”



Carmen V - Augustus – Versmaß: zweite asklepiadische Strophe







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Divis orte bonis, optume Romulae
custos gentis, abes iam nimium diu;
maturum reditum pollicitus patrum
sancto consilio redi.

Lucem redde tuae, dux bone, patriae;
instar veris enim voltus ubi tuus
adfulsit populo, gratior it dies
et soles melius nitent.

Ut mater iuvenem, quem Notus invido
flatu Carpathii trans maris aequora
cunctantem spatio longius annuo
dulci distinet a domo,

votis ominibusque et precibus vocat,
curvo nec faciem litore dimovet,
sic desideriis icta fidelibus
quaerit patria Caesarem.

Tutus bos etenim rura perambulat,
nutrit rura Ceres almaque Faustitas,
pacatum volitant per mare navitae,
culpari metuit fides,

nullis polluitur casta domus stupris,
mos et lex maculosum edomuit nefas,
laudantur simili prole puerperae,
culpam poena premit comes.

Quis Parthum paveat, quis gelidum Scythen,
quis Germania quos horrida parturit
fetus incolumi Caesare? Quis ferae
bellum curet Hiberiae?

Condit quisque diem collibus in suis
et vitem viduas ducit ad arbores;
hinc ad vina redit laetus et alteris
te mensis adhibet deum;

Te multa prece, te prosequitur mero
defuso pateris et Laribus tuum
miscet numen, uti Graecia Castoris
et magni memor Herculis.

'Longas o utinam, dux bone, ferias
praestes Hesperiae!' dicimus integro
sicci mane die, dicimus uvidi,
cum sol Oceano subest.



Von den gütigen Göttern entsprossener, allmächtiger Wächter Romulus‘ Volkes, du bist schon zu lange weg; deine rechtzeitige Rückkehr hast du dem heiligen Rat der Väter versprochen, also komm zurück!

Edler Führer, bring deiner Heimat das Licht zurück; denn sobald dein Gesicht wie der Frühling dem Volk entgegenstrahlt, schreitet der Tag angenehmer daher und kräftiger gleißt die Sonne.

Wie eine Mutter ihren Sohn, den verweilend jenseits des karpathischen Meeres Notus mit missgünstigem Wind schon länger als ein Jahr von seinem süßen Zuhause fernhält,

mit allen Gelübden und Gebeten ruft, und ihr Gesicht nicht vom gekrümmten Gestade abwendet, so erwartet durchdrungen von loyaler Sehnsucht das Vaterland seinen Caesar .

Das Rind durchwandert nämlich sicher die Flure, Ceres und Faustitas pflegen die Felder, Seemänner treiben sich auf dem befriedeten Meer umher, Treue sucht Tadel zu meiden,

das keusche Haus wird durch keine Unzucht besudelt, Sitte und Gesetz haben die befleckte Sünde bezwungen, Wöchnerinnen werden für dem Vater ähnliches Kind gepriesen, und Strafe folgt Schuld auf dem Fuße.

Wer ängstigt sich vor dem Parther, wer vor dem eiskalten Scythen, wer vor den Kindern, die das rauhe Germanien hervorbringt, wenn Caesar unversehrt ist?

Jeder verbringt den Tag auf seinen Hügeln und macht die Rebe an leeren Bäumen fest; von dort kehrt er fröhlich zu seinem Wein zurück und zieht dich als Gott zum Nachtisch hinzu;

Jeder huldigt jeder dir mit viel Gebet und mit aus Schalen gegossenem Wein, und deinen Namen gesellt er den Laren hinzu, wie Griechenland des Kastors und mächtigen Herkules gedachte.

„O dass du Italien doch, edler Führer, lange Feiertage gewährest!“, rufen wir nüchtern am Morgen des neuen Tages, rufen wir betrunken, wenn die Sonne in den Ozean taucht.




Hilfen zur Übersetzung

(19)
pacatum volitant per mare : Bezug auf die Seekriege gegen Piraten und Sextus Pompeius, eventuell auch auf die Schlacht von Actium

(20)
culpari metuit fides : metuere im Sinne von cavere cf. Hor. carm. 2, 14, 16

(23)
simili prole : Ablativus causae

(24)
comes : prädikativ zu poena

(27)
incolumi Caesare : Abl. absolutus, vom Sinne her: „wer soll jetzt noch die Feinde Roms fürchten, wo unser Caesar unversehrt von den Kriegen mit diesen zurückkehrt“ – Anspielung auf zahlreiche „Neuordnungen“ bzw. Erweiterungen der Provinzen, insbesondere auf den Feldzug gegen die Parther

(31-32)
alteris / te mensis adhibet deum : alteris mensis (v. mensa) ist Dativ, deum prädikativ zu te; geschildert wird die sog. Libation (das Trankopfer)

(33)
Te multa prece, te prosequitur mero : Subjekt ist wieder quisque (cf. v. 29); [I}prosequi[/I] (eig. „begleiten“) wird hier übertragen gebraucht: „jemanden mit etwas begleiten = jemandem etwas widmen, mit etwas huldigen“

(34)
pateris : Abl. separationis abhängig von defundo

(38)
Hesperiae : das Abendland, Italien

(38-39)
integro / sicci mane die : „am unbescholtenen Tage“, d.h. „am Anfang des Tages“, und da hier durch mane noch genauer klassifiziert, zusammengezogen zu „am Morgen des neuen Tages“; sicci eig. „trocken“ hier metaphorisch für „durstig“ oder „nüchtern“ – Gegensatz uvidus

(40)
Oceano subest[/B ] : subire hier mit Dativ



Carmen VI – Vorgesang zum Carmen Saeculare (Apollo und Diana) – Versmaß: Sapphische Strophe







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Dive, quem proles Niobea magnae
uindicem linguae Tityosque raptor
sensit et Troiae prope victor altae
Phthius Achilles,

ceteris maior, tibi miles impar,
filius quamuis Thetidis marinae
Dardanas turris quateret tremenda
cuspide pugnax.

Ille, mordaci velut icta ferro
pinus aut inpulsa cupressus Euro,
procidit late posuitque collum in
puluere Teucro;

ille non inclusus equo Minervae
sacra mentito male feriatos
troas et laetam Priami choreis
falleret aulam;

sed palam captis gravis, heu nefas, heu!
nescios fari pueros Achivis
ureret flammis, etiam latentem
matris in alvo,

ni tuis flexus Venerisque gratae
vocibus divom pater adnuisset
rebus Aeneae potiore ductos
alite muros.

Doctor argutae fidicen Thaliae,
Phoebe, qui Xantho lavis amne crinis,
Dauniae defende decus Camenae,
levis Agyieu.

Spiritum Phoebus mihi, Phoebus artem
carminis nomenque dedit poetae.
Virginum primae puerique claris
patribus orti,

Deliae tutela deae, fugacis
lyncas et cervos cohibentis arcu,
Lesbium servate pedem meique
pollicis ictum,

rite Latonae puerum canentes,
rite crescentem face Noctilucam,
prosperam frugum celeremque pronos
volvere mensis.

Nupta iam dices: 'Ego dis amicum,
saeculo festas referente luces,
reddidi carmen docilis modorum
vatis Horati.'



Göttlicher, den Niobes Nachkommenschaft als Rächer großprahlerischer Worte, Tityos der Räuber und der beinahe über das hohe Troja siegreiche Achilles aus Phthia spüren mussten,

Achilles, ein Soldat größer als die anderen, dir aber nicht ebenbürtig, obgleich er der Sohn der Meer-Thetis war und kampfeslustig die trojanischen Türme mit seiner furchtbaren Lanze erschütterte.

Wie eine von scharfer Klinge getroffene Pinie oder eine vom Eurus gepeitschte Zypresse, fiel er breit nieder und legte seinen Hals in den trojanischen Sand;


Jener hätte sich nicht im Pferd, das ein Opfer für Minerva erlog, eingeschlossen und die zur Unzeit feiernden Trojaner und den vor Reigentanz fröhlichen Hof des Priamus getäuscht;

Aber offen grausam gegenüber den Gefangenen – welch‘ Frevel! – hätte er Kinder, die noch nicht sprechen können, mit achivischen Flammen versengt, sogar im Mutterleib,

wenn nicht der Göttervater, durch deine und der holden Venus Bitten erweicht, der Welt gewährt hatte, dass Aeneas unter günstigerem Vorzeichen neue Mauern erbaue.


Phoebus, du Lyriker und Lehrer der klangreichen Thalia, der du dein Haar im Xanthischen Strome wuschst, verteidige die Ehre der römischen Muse, bartloser Aygieus.

Phoebus verlieh mir Inspiration, Phoebus verlieh mir Kunst und den Namen „Dichter“. Edelste Jungfrauen und berühmter Väter Söhne,

Schützlinge der delischen Göttin, die mit ihrem Bogen fliehende Füchse und Hirsche erlegt, gebt Acht auf das sapphische Versmaß und den Taktschlag meines Daumens,

besingt gehörig den Sohn Letos, gehörig die an Licht zunehmende Noctiluca, die Beglückerin der Feldfrüchte, die enteilende Monate schnell durchlaufen lässt.

Als Gattin wirst du alsbald sagen: „Den Göttern wohlwollend sang ich, als das Jahrhundert die Festtage zurückbrachte, ein Lied, der Maße des Sängers Horaz befähigt.“




[B]Hilfen zur Übersetzung

(1)
Niobea : cf. Ov. met. 6,146-312 – Niobe rühmte sich, sieben Töchter und sieben Söhne zu haben; sie stellte sich gar über die Titanin Leto (Latona), die nur einen Sohn und eine Tochter hatte: Apollon (Apollo) und Artemis (Diana); wutentbrannt befahl Leto ihren Kindern, Niobes gesamte Nachkommenschaft zu erledigen

(2)
Tityos : wollte Leto vergewaltigen und wurde dafür von Apollon getötet

(4)
Achilles : mit Hilfe des Apollon streckte Paris mit seinem Bogen Achilles nieder

(11)
procidit : Perfekt

(13-14)
equo Minervae /sacra mentito : Der griechische Kundschafter Sinon überzeugte die Trojaner, das Pferd in die Stadt zu holen, indem er sie glauben machte, die Griechen hätten dies als Opfer an Athene (Minerva) und Poseidon (Neptun) zurückgelassen; Minervae Dat. commodi zu sacra (?)

(16)
falleret : Konj. Imp. als Irrealis oder Potentialis der Vergangenheit

(19)
latentem : Inkonzinnität (Zeugma); das Partizip bezieht sich inhaltlich auch auf pueros, würde aber puerum benötigen

(22)
divom : synkopiert aus divorum

(22-24)
adnuisset /rebus Aeneae potiore ductos / alite muros : adnuisset regiert sowohl rebus als auch den AcI … ductos … muros; ductos ist im Dt. schwer als vorzeitig zu begreifen, da wir mit dem Begriff des Gewährens eine (in Relation zum übergeordneten Tempus) zukünftige Handlung erwarten

(28)
Agyieus : latinisiert aus griech. Ἀγυιεύς, von ἀγυιά „Straße“, weil Apollon als Beschützer der Straßen galt

(33)
tutela : hier passivisch, also „Schützlinge“ statt „Schutz“ oder „Beschützer“; appositiv zu den Vokativen (virginum) primae und pueri

(35)
Lesbium : die Lyrikerin Sappho, nach der die „sapphische Strophe“ benannt ist, kam von der Insel Lesbos

(38)
face : Abl. limitationis (instrumenti) „an Licht zunehmen = heller werden“
Noctilucam : „Leuchterin der Nacht“, Beiname der Diana, die auch als Göttin des Mondes galt und mit der eigentlichen Göttin des Mondes, Luna, oft gleichgesetzt wurde

(39-40)
prosperam frugum celeremque pronos /volvere mensis : ein weiteres Attribut Dianas: Göttin der Fruchtbarkeit (wegen der Effekte des Mondes auf die Saat); prosperam mit objektivem Genitiv; celerem mit Infinitiv anstelle eines limitativen Ablativs

(41)
Nupta iam dices : Mädchen und Knaben trugen das Carmen Saeculare vor. Horaz entwirft hier ein Bild der Zukunft: Wenn das Mädchen einst verheiratet sein wird, dann wird es noch davon erzählen, dieses Lied gesungen zu haben; iam daher auch „bald“

(43)
docilis modorum : docilis mit Genitivus obiectivus



Carmen VII – Vergänglichkeit (Torquatus) – Versmaß: zweite archilochische Strophe







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Diffugere nives, redeunt iam gramina campis,
arboribus comae;
mutat terra vices et decrescentia ripas
flumina praetereunt;

Gratia cum Nymphis geminisque sororibus audet
ducere nuda chors.
Inmortalia ne speres, monet annus et almum
quae rapit hora diem.

Frigora mitescunt Zephyris, ver proterit aestas
interitura, simul
pomifer autumnus fruges effuderit, et mox
bruma recurrit iners.

Damna tamen celeres reparant caelestia lunae:
nos ubi decidimus,
quo pater Aeneas, quo dives Tullus et Ancus,
puluis et umbra sumus.

Quis scit, an adiciant hodiernae crastina summae
tempora di superi?
Cuncta manus auidas fugient heredis, amico
quae dederis animo.

Cum semel occideris et de te splendida Minos
fecerit arbitria,
non, Torquate, genus, non te facundia, non te
restituet pietas;

infernis neque enim tenebris Diana pudicum
liberat Hippolytum,
nec Lethaea valet Theseus abrumpere caro
vincula Pirithoo.



Der Schnee hat sich aufgelöst, Gras kehrt bereits auf die Felder, Laub auf die Bäumen zurück;
die Erde ändert ihr Gesicht und wieder kleiner werdende Flüsse strömen an ihren Ufern vorbei;

Die Grazie wagt mit den Nymphen und ihren beiden Schwestern, nackt Tänze aufzuführen.
Hoffe nicht auf Unsterblichkeit, das Jahr und die Stunde, die den holden Tag wegraffen, warnen dich.

Die Kälte wird durch Westwinde mild, der Sommer vertreibt den Frühling und wird selbst verschwinden, sobald der obsttragende Herbst Früchte hervorbringt, und bald darauf kommt der schlaff machende Winter zurück.

Seine Abnahme am Himmel behebt der Mond jedoch schnell wieder: sowie wir herabgefallen sind, wohin Vater Aeneas, wohin der reiche Tullus und Ancus es sind, so sind wir Staub und Schatten.

Wer weiß, ob die Götter oben der heutigen Summe, morgige Zeiten hinzufügen? Alles wird den gierigen Händen deines Erben entgehen, was du deinem lieben Ich gegönnt hast.

Wenn du einmal gestorben bist und auch wenn Minos über dich ein glänzendes Urteil gefällt hat, werden dich, Torquatus, nicht deine Abstammung, nicht deine Redegewandtheit und nicht deine Frömmigkeit wiedererwecken.

Denn aus der Finsternis der Unterwelt befreit weder Diana den schamhaften Hippolytus, noch vermag Theseus die letheischen Fesseln von seinem teuren Pirithous lösen.




Hilfen zur Übersetzung

(1-2)
campis […] arboribus : Dative der Richtung [i. e. ad campos, ad arbores]

(5)
Gratia : die drei Grazien sind Euphrosyne, Aglaia und Thalia

(10)
simul : [ = simulatque]

(11)
effuderit : Futur II zur Bezeichnung der Vorzeitigkeit zum Participium interitura

(13)
Damna […] caelestia : wörtlich „der himmlische Schaden = der Schaden am Himmel“; gesprochen wird hier davon, dass der Mond ebenso sich ebenso schnell wieder anfüllt („repariert“), wie er abnimmt („Schaden nimmt“).

(21)
Minos : Richter in der Unterwelt

(21-22)
Cum semel occideris et de te splendida Minos / fecerit arbitria : die Verben stehen im Futur II; der zweite Teil ist konzessiv nuanciert

(25)
infernis […] tenebris : separativer Ablativ

(27-28)
Lethaea […] / vincula : Lethe, ein Fluss in der Unterwelt, aus dem die Toten tranken, um ihre Vergangenheit zu vergessen; hier metonymisch gebraucht „zur Unterwelt gehörig“

(28)
Pirithoo : ein Freund des Theseus, der mit diesem nach dem Tode in die Unterwelt ging, um Proserpina von dort zurückzuholen, wurde aber gefesselt und dort festgehalten


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