Kasuslehre
Zweiter Kasus - Genitiv
31.08.2011 - 09:37

Der Genitiv oder Genetiv hat im Wesentlichen zwei syntaktische Funktionen:

  1. Genitivattribut: Genauere Beschreibung einer Person oder Sache.
  2. Genitivobjekt: Der Genitiv als Objekt einer Verbalhandlung.

Genitive können von Substantiven, Adjektiven, Adverbien, Pronomina und Verben abhängen. Die Standardfrage nach dem Genitiv ist "wessen?".

Übersicht der Genitive:
Genitivus explicativus
Genitivus partitivus
Genitivus possessivus
Genitivus pretii
Genitivus qualitatis
Genitivus subiectivus und obiectivus
Genitiv bei Verben







Genitivus explicativus



Der "explikative" Genitiv, auch Genitivus definitivus genannt, bezeichnet einen allgemeinen Begriff genauer.

iugum Alpiumder Gebirgszug "Alpen"
verbum voluptatisdas Wort "Vergnügen"
vitium cupidinisdie Untugend "Genusssucht" ~ die Untugend der Genusssucht







Genitivus partitivus



Der Genitivus partitivus bezeichnet das Ganze, von dem ein Teil angegeben ist.

Er steht nach Substantiven, die eine Menge oder ein Maß angeben, Pronomina, quantitätsangebenden Adjektiven und Adverbien.

Im Deutschen wird der Genitivus partitivus meist mit den Präpositioen "an" und "von" oder aber auch attributiv bzw. appositiv wiedergegeben (siehe erstes Beispiel).


Substantive:

duo milia naviumzweitausend an Schiffen ~ zweitausend Schiffe
parva copia frumentieine geringe Menge an Getreide
agmen ferarumein Rudel wilder Tiere
magnitudo aquaeeine Menge an Wasser



Pronomina:

quis vestrumwer von euch?
nihil malinichts gutes
aliquid calamitatisirgendwas an Unheil
id temporiszu dieser Zeit



Quantitätsangebende Adjektive und Adverbien:

multum famaeviel Geschwätz
plus vinimehr an Wein
tantum belliso viel Krieg
satis divitiarum habeoich habe genug an Reichtümern







Genitivus possessivus



Er wird verwendet:

1. als Attribut bei Substantiven zur Angabe des Besitzers;

gladius gladiatorisdas Schwert des Gladiators
villa propraetorisdas Landgut des Statthalters



2. als Prädikativ (Prädikatsnomen) in Abhängigkeit von esse (Eigentum sein von, gehören), fieri, facere und ähnlichen Verben. Auch sacer (heilig) und proprius (eigentümlich) fordern den Genitivus possessivus.

Tota Asia populi Romani facta est.Ganz Asien wurde zum Eigentum des römischen Volkes (gemacht).
Id templum Iovis sacrum est.Dieser Tempel ist dem Jupiter geheiligt.
Hoc vitium est proprium discipulorum.Dieser Fehler ist typisch für Schüler.


Bei den folgenden Beispielen ist eine große Nähe zum Dativus possessivus zu erkennen. Während der Dativ den Besitz betont, betont der Genitiv den Besitzer:

Domus patris erant.Die Häuser waren "des Vaters". ~ Die Häuser gehören dem Vater.
Omnia, quae mulieris fuerunt, viri fiunt.Alles, was der Frau gehört hat, wird Eigentum des Mannes.



est, videtur, habetur u. a. unpersönliche Ausdrücke heißen in übertragener Bedeutung mit dem Genitiv: etwas ist (scheint, gilt als) ein Zeichen von, jemandes Pflicht, Sache, Aufgabe oder eigentümlich für jemanden:

Est consulum civibus cavere.Es ist Aufgabe der Konsuln, für die Bürger Sicherheit zu verschaffen.
Est adulescentis maiores natu vereri.Es ist die Pflicht eines jungen Mannes, Rücksicht auf die Älteren zu nehmen.
Est miserorum, ut malevolentes sint.Es ist für die Elenden eigentümlich, dass sie mißgünstig sind.
Arma sumere moris est.Es ist Sitte, zu den Waffen zu greifen.
Duri hominis vel potius vix hominis videtur periculum capitis inferre multis.Es scheint einem hartherzigen oder eher unmenschlichen Menschen eigen zu sein, viele in Todesgefahr zu bringen.


Ist die Person durch ein Pronomen ausgedrückt, wird kein Personal- sondern ein Possessivpronomen gesetzt:

meum, tuum, suum, nostrum, vestrum estes ist meine, deine, seine / ihre, unsere, eure Pflicht / Aufgabe



Weiterführendes: Auch im Deutschen nimmt der Genitiv in einigen Wendungen die Funktion eines Prädikatsnomens ein, wie in "bist du des Wahnsinns?", "er war der Meinung" oder "sie sind des Todes".






Genitivus pretii



Der Genitivus pretii steht nach den Verben des (Be-)Wertens und Wertseins in Form von Quantitätsadjektiven. Dazu zählen:

esse, fierigelten, wert sein


aestimare, existimare, putare, ducere


schätzen, für wert halten, achten


Das Quantitätsadjektiv steht im Genitiv Neutr. Sg. und macht dann also den Genitivus pretii aus:

aliquid magni, parvi, tanti, nihili estetwas ist viel, wenig, so viel, nichts wert


Mea mihi conscientia pluris est quam omnium sermo.


Mein Gewissen ist mir mehr wert als das Gerede aller Leute.
Quanti id est?Wie viel ist es wert? ~ Was kostet das?
Commii auctoritas in his regionibus magni habebatur.Das Ansehen des Commius wurde in diesen Regionen hoch gehalten.



Außerdem steht er bei Verben der Kaufhandlung, jedoch nur bei Vergleichen und Fragen:

aliquid pluris emereetwas für mehr kaufen ~ etwas teurer kaufen
Quanti hoc vendidisti?Für wieviel hast du das verkauft?







Genitivus qualitatis



Der Genitivus qualitatis gibt Auskunft über die Beschaffenheit einer Person oder Sache und wird stets mit einem Attribut verbunden. Im Deutschen empfiehlt sich die Wiedergabe mit einem Adjektiv oder mit der Präposition "von".


Attributive Erscheinungsform:

vir magnae sapientiaeein Mann von großer Weisheit ~ ein sehr weiser Mann
puella septem annorumein Mädchen von sieben Jahren ~ ein siebenjähriges Mädchen
fortissimorum militum exercitusein Heer äußerst tapferer Soldaten



Der Genitivus qualitatis wird auch prädikativ mit esse verwendet:

Nulli consilii sum.Ich bin keines Rates ~ Ich bin ratlos.
Eiusdem aetatis fuit.Er war vom selben Zeitalter. ~ Er lebte in derselben Zeit.
Ordinis senatorii P. Lentulus Spinther erat.Publius Lentulus Spinther war von senatorischem Rang.







Genitvus subiectivus und obiectivus



Während der Genitivus subiectivus die Sache oder Person bezeichnet, von der eine Handlung ausgeht, bezeichnet der Genitivus obiectivus die Sache oder Person, die von einer Handlung betroffen ist.

Der Genitivus obiectivus des Lateinischen kann im Deutschen meist nicht durch einen Genitiv wiedergegeben werden.

Ein Beispiel zur Erläuterung:

clamor virorum (subi.)das Geschrei der Männer
Das Geschrei geht von den Männern aus. Die Männer selbst führen die Handlung (Geschrei) aus, also subiectivus.

clamor virorum (obi.)das Geschrei nach den Männern
Das Geschrei geht zu den Männern hin. Sie werden von der Handlung (Geschrei) getroffen, also obiectivus.



Weitere Beispiele:

subiectivusobiectivus
cupido feminarumdie Gier der Frauendie Gier nach Frauen
odium hostisder Hass des Feindesder Hass auf den Feind
invidia Caesarisder Neid Caesarsder Neid auf Caesar
luctus maritidie Trauer des Ehemannsdie Trauer um den Ehemann



Hängen Genitivus subiectivus und obiectivus vom selben Beziehungswort ab, wird dieses zwischen die beiden Genitive gesetzt:

viri contentio ultionisdas Streben des Mannes nach Rache



Wenn Pronomina verwendet werden, wird der subiectivus durch ein Possessivpronomen ausgedrückt, der obiectivus durch ein Personalpronomen:

subiectivusobiectivus
meum odiummein Hass
odium meider Hass auf mich



Zusammen nur mit Ersatz des Genetivus obiectivus durch einen Präpositionalausdruck:

odium meum in temein Hass auf dich



Wichtiger Hinweis:

Alle Adjektive und deren Gegenteile im Sinne von:
  • begierig
  • kundig
  • denkend
  • teilnehmend
  • mächtig
  • voll

stehen mit dem objektiven (bzw. partitiven) Genitiv.

Ebenso kann ein objektiver Genitiv nach einem Partizip Präsens Aktiv transitiver Verben stehen, wenn eine dauerhafte Eigenschaft bezeichnet wird. Man spricht auch von sog. Partizipialadjektiven, da diese Wörter teils verbale, teils attributive Eigenschaften haben und von Partizipien entstammen.

amans rei publicaeeiner, der sein Land liebt ~ ein Patriot
neglegens veritatisdie Wahrheit vernachlässigend
diligens veritatiswahrheitsliebend



Ist der Genitivus obiectivus eine Erfindung des Lateinischen? Nein, im Deutschen gibt es ihn genauso:

Die Eroberung der Stadt, die Zerstörung des Dorfes, der Genuss der Eiscreme, die Erfindung des Webstuhls usw.







Genitiv bei Verben



Manche Verba des Lateinischen fordern einen Genitiv als Objekt. Diese Verba lassen sich in 4 Gruppen unterteilen:
  1. verba iudicalia
  2. verba impersonalia affectūs
  3. verba memorandi, obliviscendi, reminiscendi
  4. interesse und rēferre



1. Die Verben der Gerichtssprache (sog. verba iudicalia) stehen oft mit dem Genitiv. Im Genitiv steht der Grund bzw. Gegenstand der Verhandlung (warum oder weswegen wird jemand angeklagt, freigesprochen, verurteilt etc.). Man spricht auch von einem Genitiv des Vergehens, den es z. T. auch im Deutschen gibt:

civem furti accusareeinen Bürger wegen Diebstahl anklagen
negotiorum gestorum damnariwegen schlechter Geschäftsführung veruteilt werden
Alter latrocinii, alter caedis convictus est.Der eine wurde des Raubes, der andere des Mordes überführt.
aliquem improbitatis absolverejemanden von moralischer Schlechtnis freisprechen



2. Die unpersönlichen Verben der Empfindung (sog. verba affectūs). Zur Erinnerung: Unpersönliche Verben sind diejenigen, die nur die 3. Pers. Sg. Neutr. bilden. Die Person, von der die Empfindung ausgeht, steht im Akkusativ, die Person oder Sache, auf die sich die Empfindung bezieht, im Genitiv.

Fratris me piget.Ich ärgere mich über meinen Bruder.
Tui te nec miseret nec pudet.Weder bemitleidest du dich noch schämst du dich vor dir.
Suae quemque fortunae paenitet.Niemand ist mit seinem Schicksal zufrieden.
Taedet nos vitae.Wir sind des Lebens überdrüssig.



3. Die Verben des Erwähnens, Vergessens und Erinnerns stehen meistens mit einem Genitivobjekt.

mentionem facere alicuius reieine Erwähnung von einer Sache machen
Nec belli periculorumque, sed divitiarum meminerant.Und sie dachten nicht an den Krieg und die Gefahren, sondern an die Reichtümer.
Tuae constantiae memini.Ich erinnere mich an deine Standhaftigkeit.
Numquam noctis illius obliviscar.Niemals werde ich jene Nacht vergessen.



4. Die Komposita interesse und rēferre in der Bedeutung "wichtig sein für" bzw. "von Interesse sein für" stehen mit dem Genitiv.
Die Person oder Sache, für die etwas wichtig steht im Genitiv (allerdings nicht, wenn im Deutschen Personalpronomina gesetzt werden müssen. Dann steht das Possesivpronomen im Abl. Fem. Sg. so wie bei causa und gratia. Siehe letztes Beispiel).
Das, was wichtig ist, wird entweder über eine Infinitivkonstruktion oder durch einen indirekten Fragesatz ausgedrückt.

Omnium civium interesse debet patriam salvam esse.Es muss im Interesse aller Bürger liegen, dass das Vaterland wohlbehalten ist.
Diviciacum docet, quanto opere rei publicae communisque salutis intersit manus hostium distineri.Er belehrte Diviciacus, wie wichtig es für Staat und Allgemeinwohl sei, dass die Truppen der Feinde zersplittert werden.
Quis est hodie, cuius intersit istam legem manere?Wer ist es heute, in dessen Interesse es ist, dass dieses Gesetz fortbesteht?
Quid id refert tua?Was ist das für dich wichtig?




Imperator


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