Der Konjunktiv ist im Lateinischen der Modus der Vorstellung. Im Gegensatz zum Indikativ, der Aussagen über die Wirklichkeit macht, wird der Konjunktiv dazu benutzt, um auszudrücken, wie etwas nicht ist (Irrealis), sein soll (Optativ und Iussiv), möglicherweise ist (Potentialis) oder wie sich etwas aus Sicht eines anderen darstellt (obliquus). Der Begriff Vorstellung ist hier also etwas weiter zu fassen, passt aber ziemlich gut, um die Funktionen des Konjunktivs in Gänze zu beschreiben.
Das Lateinische verfügt über Konjunktivformen in den Tempora Präsens, Imperfekt, Perfekt und Plusquamperfekt.
Tempus | Lateinisches Beispiel | Präsens | scribam, scribas, scribat ... | Imperfekt | scriberem, scriberes, scriberet ... | Perfekt | scripserim, scripseris, scripserit ... | Plusquamperfekt | scripsissem, scripsisses, scripsisset ... |
Die Tabelle dient nur der Übersicht. Einzelheiten zur Bildung der jeweiligen Formen finden sich in den Konjugationstabellen.
Anmerkungen:
Die fehlenden Konjunktivformen des Futur I und Futur II werden durch den Konjunktiv Präsens/Imperfekt und Perfekt/Plusquamperfekt ersetzt. In einigen Fällen wird auch zu einer Umschreibung gegriffen (sog. coniugatio periphrastica).
Die Bezeichnung Konjunktiv (v. lat. coniungere "verbinden", engl. häufig subjunctive, v. lat. subiungere "unten anfügen, unterordnen") rührt daher, dass dieser Modus in vielen Nebensätzen, also gleichsam zur Verbindung/Unterordnung, gebraucht wird.
Zur Funktion des lateinischen Konjunktivs
Wunsch und Befehl
Der Konjunktiv Präsens drückt einen erfüllbaren, der Konjunktiv Imperfekt einen unerfüllbaren Wunsch der Gegenwart aus. Bei Bezug auf die Vergangenheit steht im Falle des erfüllbaren Wunsches der Konjunktiv Perfekt, im Falle des unerfüllbaren Wunsches der Konjunktiv Plusquamperfekt. Zum Ausdruck erfüllbarer Wünsche steht zuweilen ein utinam ("hoffentlich") oder velim / nolim, selten ein ut ("dass doch") voran. Bei unerfüllbaren Wünschen sind utinam ("wenn doch") oder vellem / nollem vor dem Verb die Regel.
I. erfüllbarer Wunsch
Gegenwart: Ut intellegatis! Nolim me iocari putes. Hoc ignoscant di immortales velim! Utinam tibi mentem di immortales duint! (duint = arch. Konjunktiv Präsens) | Dass ihr doch versteht! Möget ihr doch verstehen! Verstehet doch! Hoffentlich glaubst du nicht, dass ich scherze. Ich hoffe, die unsterblichen Götter verzeihen dies. Mögen die unsterblichen dir doch diese Gesinnung geben! | Vergangenheit Utinam venerit! | Hoffentlich ist er gekommen. Ich wünsche, dass er gekommen ist. |
Einen derartigen Optativ kann man im Dt. mit Modalverben wiedergeben, die einen Wunsch ausdrücken (mögen, sollen), durch ein entsprechendes Adverb (hoffentlich), durch eine Umschreibung (ich wünsche / hoffe / will, dass ...) oder altertümlich durch den Konjunktiv I.
II. unerfüllbarer Wunsch
Gegenwart: Utinam ne scriberem! Di facerent sine patre forem! auch: Mallem Cerberum metueres! | Schriebe ich doch nicht! (aber ich tu es) Würden die Götter mich doch vaterlos machen! Lieber wollte ich, du würdest den Cerberus fürchten!
| Vergangenheit Nollem dixissem! Utinam Kalendis Sextilibus adesse potuissem! Utinam ille omnis secum suas copias eduxisset! | Ich wünschte, ich hätte das nicht gesagt! Wenn ich doch am 1. August hätte da sein können! Hätte er doch seine Truppen mit sich hinausgeführt! |
Unerfüllbare Wünsche werden im Dt. mit dem Konjunktiv II (Irrealis) wiedergegeben. Zusätzlich muss ein "(wenn) doch / nur" oder eine Umschreibung ("ich wünschte") appliziert werden, um die Aussage als Wunsch zu kennzeichnen.
Anmerkungen:
Da es sich bei Wünschen, deren Erfüllung als unmöglich angesehen wird, um bloße Spekulationen handelt, mag man diese auch dem Irrealis zuordnen. So ist es auch kein Zufall, dass die unerfüllbaren Wünsche im Lat. wie im Dt. mittels der "irrealen Tempora" des Konjunktivs, nämlich Imperfekt (Praeteritum) und Plusquamperfekt, gebildet werden.
III. konzessiver Optativ
Selten bezeichnet der Optativ, häufig in Verbindung mit licet (cf. Konzessivsätze mit licet, ähnl. quamvis) eine Einräumung. Tritt der Konjunktiv in dieser Funktion auf, benutzen wir am besten einen Konzessivsatz ("auch wenn" oder näher am Lat. "mag auch"). Auf einen solchen Konjunktiv folgt im Nachsatz (oft mit tamen, vero etc.) der Gegenstand, dem die Einräumung gilt.
Ne sit sane summum malum dolor: malum certe est. | Auch wenn Schmerz nicht das größte Übel ist: ein Übel ist er allemal. | Ne licet ergo patrem appellet Octavius Ciceronem, referat omnia, laudet, gratias agat, tamen illud apparebit verba rebus esse contraria. | Selbst wenn Octavius nun Cicero einen Vater nennt, alles berichtet, lobt, dankt, so wird sich dennoch jenes zeigen, eben dass seine Worte den Fakten widersprechen. | Fuerint cupidi, fuerint irati, fuerint pertinaces: sceleris vero crimine, furoris, parricidi liceat Cn. Pompeio mortuo, liceat multis aliis carere. | Mögen sie auch leidenschaftlich, zornig oder hartnäckig gewesen sein: doch vom Vorwurf des Verbrechens, der Raserei, des Vatermords mag der tote Gnaeus Pompeius, mögen viele andere befreit sein. | Anmerkung: fuerint ist konzessiv, liceat Optativ oder Iussiv |
Der Konjunktiv wird verwendet, um einen Befehl an die zweite oder dritte Person auszudrücken, sog. Iussiv. Zur Wiedergabe im Dt. greifen wir zum Modalverb "sollen". Bei Bezug auf die Gegenwart (Zukunft) steht der Konjunktiv Präsens. Wenn sich der Befehl auf die Vergangenheit bezieht, wird der Konjunktiv Imperfekt oder Plusquamperfekt verwendet. Im Dt. verwenden wir dann "sollen" und den Konjunktiv II (Irrealis), da es sich um eine bloße Annahme handelt. Dem Befehl (der Verpflichtung) wurde nicht nachgekommen bzw. kann nicht mehr nachgekommen werden. Diese Verwendung ist selten.
Richtet sich der Befehl an die erste Person Plural, so sprechen wir vom sog. Hortativ. In diesem Fall bietet sich eine Übersetzung mit "lasst uns" an. Verneinung ist in beiden Fällen ne.
Gegenwart:
cedas |
du sollst gehen | cedat | er soll gehen | |
cedamus | lasst uns gehen | Sensibus haec imis reponas! | Präg es dir tief ein! | Vergangeheit:
fecisset idem |
er hätte dasselbe tun sollen | Saltem aliquid de pondere detraxisset. | Zumindest hätte er etwas vom Gewicht wegnehmen sollen. | Frumentum ne emisses. | Du hättest das Getreide nicht kaufen sollen. |
Um einen negierten Befehl an die zweite Person auszudrücken, wird ne mit dem Konjunktiv Perfekt verbunden, sog. Prohibitiv. Obgleich das Tempus Perfekt verwendet wird, bezieht sich der Befehl nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Gegenwart (Zukunft).
Ähnlich dem Iussiv, der einen Befehl ausdrückt, kann der Konjunktiv als sog. Deliberativ dazu genutzt werden, um Handlungsanweisungen zu erfragen - gewissermaßen wird hier um einen Befehl gebeten. Der deliberative Konjunktiv steht demnach in Fragen und wird ebenfalls mit "sollen" wiedergegeben. Bei Bezug auf die Gegenwart (Zukunft) steht der Konjunktiv Präsens. Bezieht sich die Frage auf die Vergangenheit, so wird der Konjunktiv Imperfekt verwendet. Im Falle der vergangenen Handlung muss im Dt. wieder zum Irrealis der Vergangenheit gegriffen werden, denn eine Handlungsanweisung für die Vergangenheit kann nur spekulativ (angenommen, unwirklich) sein, cf. Iussiv der Vergangenheit. Die Verneinung beim Deliberativ ist jedoch non.
Gegenwart:
Quid agam, iudices? |
Wie soll ich verfahren, Richter? | Quo accusationis meae rationem conferam? | Worauf soll ich das Verfahren meiner Anklage richten? | Quid hoc homine facias? | Was sollst du (soll man) mit diesem Kerl machen? | Vergangeheit:
Non venirem contra iniuriam? |
Hätte ich nicht gegen das Unrecht auftreten sollen? | Ego me, illum acerrimum regum hostem, ipsum cupiditatis regni crimen subiturum timerem? | Ich hätte fürchten sollen, dass ich selbst, jener schärfste Widersacher der Könige, der Thronbegierde bezichtigt werden würde? |
Annahme
So wie im Deutschen der Konjunktiv II der Gegenwart (Präteritum) und der Vergangenheit (Plusquamperfekt) eine Aussage als irreal (unwirklich, hypothetisch) kennzeichnen, drücken im Lateinischen die Konjunktivformen des Imperfekts und des Plusquamperfekts Irrealität aus. Der Konj. Imperfekt bezieht sich meistens auf die Gegenwart, selten auf die Vergangenheit, der Konj. Plusquamperfekt immer auf die Vergangenheit. Beide Formen erscheinen - wie auch im Dt. - hauptsächlich in Konditionalgefügen. Zuweilen ist sich, bei allein stehendem Hauptsatz, eine unerfüllte (nicht realisierte) Bedingung zu denken.
Gegenwartsbezug
traherem | ich zög | Me si fata meis paterentur ducere vitam auspiciis et sponte mea componere curas, urbem Troianam primum dulcesque meorum reliquias colerem, Priami tecta alta manerent. | Wenn das Schicksal es zuließe, dass ich mein Leben selbst (auspiciis) führte und meine Sorgen nach eigenem Kopfe linderte, dann ehrte ich zuerst Troja und die süßen Reliquien der Meinigen, dann beständen Priamus' hohe Dächer fort. | Haec ego, iudices, non auderem proferre, ni vererer ne forte plura de isto ab aliis in sermone quam a me in iudicio vos audisse diceretis. | Ich würde es nicht wagen, ihr Richter, diese Dinge vorzu-bringen, wenn ich nicht fürchten würde, dass ihr vielleicht sagen könntet, mehr über diesen da von anderen im Gespräch als von mir in dieser Gerichtsverhandlung gehört zu haben. |
Vergangenheitsbezug
traxissem | ich hätte gezogen | Nisi vehementius homini minatus essem, nisi legis sanctionem poenamque recitassem, tabularum mihi potestas facta non esset. | Wenn ich dem Mann nicht massiver gedroht hätte, wenn ich nicht Strafgesetz und Strafe verlesen hätte, dann wäre mit kein Zugriff auf die Protokolle gestattet worden. | Numquam enim, si denariis cccc Cupidinem illum putasset, commisisset, ut propter eum in sermonem hominum atque in tantam vituperationem veniret. | Denn hätte er geglaubt, jener Cupido wäre 400 Denare wert, hätte er es niemals dahin kommen lassen, wegen diesem ins Gerede der Leute und in so große Kritik zu geraten. |
Besonderheiten:
I. Wie im Deutschen, so sind auch im Lateinischen gemischte Konditionalsätze möglich.
In hac insula extrema est fons aquae dulcis, cui nomen Arethusa est, incredibili magnitudine, plenissimus piscium: qui fluctu totus operiretur, nisi munitione ac mole lapidum diiunctus esset a mari. | Am Ende dieser Insel gibt es eine Süßwasserquelle, die den Namen Arethusa trägt, von unglaublicher Größe und höchstem Fischreichtum: Diese würde gänzlich durch die Flut bedeckt werden, wenn sie nicht durch Damm und Steinwehr von Meer getrennt worden wäre. |
II. Befindet sich das Konditionalgefüge in infinitivischer Abhängigkeit (z. B. AcI), steht in der Apodosis der Infinitiv Perfekt der coniugatio periphrastica, sowohl zum Ausdruck eines Irrealis der Gegenwart als auch der Vergangenheit.
Si haec contra ac dico essent omnia, (dico) tamen illum haec, quae tot annos in familia sacrarioque maiorum fuissent, venditurum non fuisse. | Wenn all diese Dinge anders wären als ich sage, hätte jener (so sage ich) dennoch nicht das verkauft, was sich so viele Jahre in seiner Familie und der Hauskapelle seiner Vorfahren befunden hatte. |
III. In einer Apodosis, die an eine irreale Protasis geknüpft ist, stehen Modalverben i. d. R. im Indikativ, sind im Dt. allerdings mit dem Irrealis wiederzugeben (wir lassen die Irrealität des Infinitvs auf das Modalverb abfärben, das eigentlich gar nicht irreal ist).
Quid poterat Heius respondere, si esset improbus, si sui dissimilis? | Was hätte Heius antworten können, wenn er frevelhaft, wenn er seiner ungleichartig gewesen wäre? |
Eine weitere Funktion des lateinischen Konjunktivs ist es, eine Aussage als möglich zu kennzeichnen, der sog. Potentialis. Wir können diese Möglichkeit durch Modalverben "(kann), könnte, sollte, dürfte, möchte" oder durch Adverbien "wohl, eventuell, womöglich, möglicherweise, vielleicht etc." wiedergeben. Häufig wird der Potentialis dazu benutzt, um Aussagen abzumildern, indem er das Tatsächliche ins Mögliche überträgt.* Der Potentialis der Gegenwart (Zukunft) wird sowohl durch den Konjunktiv Präsens als auch durch den Konjunktiv Perfekt (zeitstufenlos) wiedergegeben. Negation ist immer non.
aliquis dicat / dixerit | jemand könnte / dürfte sagen // sagt wahrscheinlich / eventuell etc. | unum addiderim | eines möchte ich hinzufügen | | ut ita dixerim | sozusagen (eig. wie ich so sagen könnte) | | Quis dubitet, quin in virtute divitiae sint? | Wer möchte bezweifeln, dass (wahrer) Reichtum in virtus besteht? | Tu Platonem nec nimis valde nec nimis saepe laudaveris. | Du kannst / könntest Plato gar nicht zu sehr und zu oft loben. |
Im Lateinischen finden sich zuweilen Möglichkeitsadverbien (fortasse, fortassean, forsitan) beim Potentialis, wobei diese (insbesondere fortasse) auch mit dem Indikativ stehen.
fortasse videantur | sie scheinen wohl | forsitan perducant | eventuell haben sie verführt | fortasse quaeretis | womöglich werdet ihr fragen |
Der Potentialis der Vergangenheit ist selten. Er wird mit dem Konjunktiv Imperfekt ausgedrückt. Im Deutschen geben wir ihn mit dem Irrealis der Vergangenheit ("hätte können") wieder, da über eine Möglichkeit in der Vergangenheit nur spekuliert werden kann: Eine Umsetzung der Handlung ist nicht mehr möglich, selbst wenn man annimmt, dass damals eine Möglichkeit bestanden hat. Zuweilen scheint eine Abgrenzung vom Irrealis der Vergangenheit schwierig. Die Anwendung dieses Konjunktivs ist beinahe nur auf die generalisierende zweite Person Singular beschränkt.
haud facile discernes | man hätte nicht leicht unterscheiden können | canis venaticos diceres | man hätte sie (sc. Verres' Schurken) Jagdhunde nennen können | Ipse autem, quod minime quis crederet, tertiam partem militum frumentatum (Supinum) duabus in castris retentis dimisit. | Er selbst aber schickte, was keineswegs irgendwer hätte glauben können, den dritten Teil der Soldaten zum Getreideholen, zwei Teile behielt er im Lager. |
Weiterführendes:
* In ähnlicher (nicht gleicher!) Weise nutzen wir den Konjunktiv II (Irrealis), indem wir real gemeinte Aussagen oder Fragen aus Gründen der Höflichkeit als Annahme formulieren ("würdest du mir den Käse reichen?" anstatt "reichst du mir den Käse?" bzw. "reich mir den Käse!").
Indirekte Rede
Jeder Nebensatz, der eine fremde Ansicht enthält, steht im Lateinischen im Konjunktiv und folgt den Regeln der Zeitenfolge (cf. consecutio temporum). Weiterhin stehen bei Bezug auf das Subjekt des übergeordneten Satzes die Reflexivpronomina (cf. innerliche Abhängigkeit).
Ubii magnopere orabant, ut sibi auxilium ferret (sc. Caesar). | Die Ubier baten Caesar inständig, dass er ihnen Hilfe bringe. | Fama erat: Ne iis quidem annis, quibus Rhodi specie secessus exul egerit, (sc. Tiberium) aliud quam iram et simulationem et secretas lubidines meditatum (sc. esse). | Nicht einmal in denjenigen Jahren, als er unter dem Schein der Zurückgezogenheit als Verbannter auf Rhodos gelebt habe, habe Tiberius auf etwas anderes als Zorn, Heuchelei und geheime Begierden gesonnen. | Hoc signum cecinit missuram diva creatrix, si bellum ingrueret, Volcaniaque arma per auras laturam auxilio. | Meine göttliche Mutter hat verkündet, sie werde dieses Zeichen senden, wenn ein Krieg hereinbreche, und Waffen des Vulkanus durch den Himmel zur Hilfe schicken. | Credunt plerique militaribus ingeniis subtilitatem deesse, quia castrensis iurisdictio secura et obtusior (sc. sit) ac plura manu agens calliditatem fori non exerceat. | Die meisten glauben, dass dem Verstand von Soldaten die Feinheit fehle, weil die Lagerrechtsprechung leichtfertig und ziemlich stumpf sei, und weil sie mehr mit der Hand regle und die Gewandtheit des Forums nicht übe. |
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