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Tacitus - Agricola - Kapitel I-IX: Proömium; Jugend und Ämterlaufbahn des Agricola
18.10.2013 - 20:13

Kapitel I-IX: Proömium; Jugend und Ämterlaufbahn des Agricola



[1] Proömium - Motiv des Schreibens
[2] Proömium - Gefahr des Lobes und Einschränkung der Redefreiheit
[3] Proömium - Besserung der Situation
[4] Herkunft und Jugend des Agricola
[5] Agricolas Jugend - erster Kriegsdienst
[6] Bodenschätze, Bewaffnung und Kriegsführung
[7] Agricolas Ämterlaufbahn - Quästur, Volkstribunat, Prätoriat
[8] Agricola als Mitkommandant in Britannien
[9] Statthalterschaft in Aquitanien, Konsulat, Oberbefehl über Britannien



1. Proömium - Motiv des Schreibens


[1] Clarorum virorum facta moresque posteris tradere, antiquitus usitatum, ne nostris quidem temporibus quamquam incuriosa suorum aetas omisit, quotiens magna aliqua ac nobilis virtus vicit ac supergressa est vitium parvis magnisque civitatibus commune, ignorantiam recti et invidiam. Sed apud priores ut agere digna memoratu pronum magisque in aperto erat, ita celeberrimus quisque ingenio ad prodendam virtutis memoriam sine gratia aut ambitione bonae tantum conscientiae pretio ducebantur. Ac plerique suam ipsi vitam narrare fiduciam potius morum quam adrogantiam arbitrati sunt, nec id Rutilio et Scauro citra fidem aut obtrectationi fuit: adeo virtutes isdem temporibus optime aestimantur, quibus facillime gignuntur. At nunc narraturo mihi vitam defuncti hominis venia opus fuit, quam non petissem incusaturus: tam saeva et infesta virtutibus tempora.



[1] Berühmter Männer Taten und Eigenschaften der Nachwelt zu überliefern, ein Brauch von alten Zeiten her, haben nicht einmal in unserer Zeit die Menschen, obgleich sie sich nicht umeinander scheren, bleiben gelassen, so oft irgendeine große und edle virtus das kleinen und großen Bürgerschaften gemeine Laster, die Gleichgültigkeit und Abneigung gegen das Rechtschaffene, besiegt und übertroffen hat. Aber wie es bei den Vorfahren leicht war und es mehr Spielraum gab, Erwähnenswertes zu vollbringen, so wurden alle wegen ihrer Sinnesart höchst berühmten Männer – ohne Parteilichkeit oder Ehrsucht – nur vom Lohn des guten Gewissens dazu bewogen, ein Andenken an ihr Verdienst zu hinterlassen. Sehr viele glaubten sogar, von ihren Leben zu erzählen, sei mehr ein Vertrauen auf das eigene, gute Betragen als Anmaßung; auch bei Rutilius und Scaurus führte dies nicht zu Unglaubwürdigkeit oder Missgunst. Im Grunde werden verdienstvolle Taten in denjenigen Zeiten am höchsten geschätzt, in denen sie am leichtesten hervorgebracht werden. Aber jetzt brauche ich, der ich im Begriffe bin, über das Leben eines verstorbenen Mannes zu erzählen, eine Erlaubnis, um die ich nicht ersucht hätte, wenn ich hätte anklagen wollen. So schrecklich gefährlich für Verdienste ist die Zeit, in der wir leben.


2. Proömium - Gefahr des Lobes und Einschränkung der Redefreiheit


[2] Legimus, cum Aruleno Rustico Paetus Thrasea, Herennio Senecioni Priscus Helvidius laudati essent, capitale fuisse, neque in ipsos modo auctores, sed in libros quoque eorum saevitum, delegato triumviris ministerio ut monumenta clarissimorum ingeniorum in comitio ac foro urerentur. Scilicet illo igne vocem populi Romani et libertatem senatus et conscientiam generis humani aboleri arbitrabantur, expulsis insuper sapientiae professoribus atque omni bona arte in exilium acta, ne quid usquam honestum occurreret. Dedimus profecto grande patientiae documentum; et sicut vetus aetas vidit quid ultimum in libertate esset, ita nos quid in servitute, adempto per inquisitiones etiam loquendi audiendique commercio. Memoriam quoque ipsam cum voce perdidissemus, si tam in nostra potestate esset oblivisci quam tacere.


[2] Wir haben gelesen, dass nach dem Lob von Arulenus Rusticus auf Paetus Thrasea und dem von Senecio Priscus auf Helvidius der Tod folgte, und zwar nicht nur gegen die Verfasser, sondern auch gegen deren Bücher wütete man, indem den Triumviri der Dienst zugewiesen wurde, die Denkmäler jener höchst geistreichen Persönlichkeiten auf dem Komitium und dem Forum zu verbrennen. Ja man glaubte, mit jenem Feuer werde die Stimme des römischen Volkes, die Freiheit des Senats und das Gewissen der menschlichen Rasse getilgt, nachdem man überdies die Lehrer der Weisheit verstoßen und jede edle Kunst in die Verbannung getrieben hatte, damit sich niemals mehr irgendetwas Ehrenvolles darbiete. In der Tat haben wir einen starken Geduldsbeweis abgeliefert; und wie die alte Zeit äußerste Freiheit, so haben wir äußerste Knechtschaft erlebt, nachdem mittels Bespitzelung auch der Gedankentausch genommen worden war. Mit der freien Rede hätten wir sogar das Gedächtnis verloren, wenn das Vergessen genauso in unserer Macht stünde wie das Schweigen.

3. Proömium - Besserung der Situation


[3] Nunc demum redit animus; et quamquam primo statim beatissimi saeculi ortu Nerva Caesar res olim dissociabilis miscuerit, principatum ac libertatem, augeatque cotidie felicitatem temporum Nerva Traianus, nec spem modo ac votum securitas publica, sed ipsius voti fiduciam ac robur adsumpserit, natura tamen infirmitatis humanae tardiora sunt remedia quam mala; et ut corpora nostra lente augescunt, cito extinguuntur, sic ingenia studiaque oppresseris facilius quam revocaveris: subit quippe etiam ipsius inertiae dulcedo, et invisa primo desidia postremo amatur. Quid? Si per quindecim annos, grande mortalis aevi spatium, multi fortuitis casibus, promptissimus quisque saevitia principis interciderunt, pauci et, ut ita dixerim, non modo aliorum, sed etiam nostri superstites sumus, exemptis e media vita tot annis, quibus iuvenes ad senectutem, senes prope ad ipsos exactae aetatis terminos per silentium venimus. Non tamen pigebit vel incondita ac rudi voce memoriam prioris servitutis ac testimonium praesentium bonorum composuisse. Hic interim liber honori Agricolae soceri mei destinatus, professione pietatis aut laudatus erit aut excusatus.


[3] Erst jetzt kehrt der freie Geist zurück; und obwohl Kaiser Nerva zu Beginn seiner überaus glückseligen Regierungszeit sofort dereinst unvereinbare Dinge vereinigt hat, Prinzipat und Freiheit, und Nerva Trajan täglich die Glückseligkeit unserer Zeit mehrt, und obwohl die öffentliche Sicherheit nicht mehr nur unsere Hoffnung und unseren Wunsch gehegt hat, sondern feste Zuversicht auf die Erfüllung ebenjenes Wunsches erlangt hat, sind wegen der menschlichen Schwachheit die Heilmittel dennoch langsamer als die Übel; und wie unser Körper langsam wächst und schnell stirbt, so kann man Talent und wissenschaftliches Streben leichter unterdrücken als wiederherstellen: ja sogar die Süßigkeit der Trägheit schleicht sich ein, und der anfangs verhasste Müßiggang behagt schließlich. Überdies sind innerhalb von fünfzehn Jahren – eine langer Zeitraum für ein Menschenleben – viele durch zufällige Unglücke, aber gerade die Entschlossensten durch die Raserei des Princeps umgekommen, und wenige von uns haben sozusagen nicht nur andere, sondern auch sich selbst überlebt, obwohl uns so viele Jahre mitten aus dem Leben genommen, durch die wir in Stillschweigen als junge Männer ins Greisenalter, als Greise beinahe bis zum Lebensende gekommen sind. Dennoch wird es mich nicht missmutig machen, ein Mahnmal an die frühere Knechtschaft und ein Zeugnis der glücklichen Gegenwart abgefasst zu haben – wenn auch nur in kunstloser und roher Sprache. Zunächst einmal wird dieses Buch, das zur Ehrung meines Schwiegervaters Agricola bestimmt ist, als Ausdruck meiner liebevollen Gesinnung entweder gelobt oder gerechtfertigt werden.

4. Herkunft und Jugend des Agricola


[4] Gnaeus Iulius Agricola, vetere et inlustri Foroiuliensium colonia ortus, utrumque avum procuratorem Caesarum habuit, quae equestris nobilitas est. Pater illi Iulius Graecinus senatorii ordinis, studio eloquentiae sapientiaeque notus, iisque ipsis virtutibus iram Gai Caesaris meritus: namque Marcum Silanum accusare iussus et, quia abnuerat, interfectus est. Mater Iulia Procilla fuit, rarae castitatis. In huius sinu indulgentiaque educatus per omnem honestarum artium cultum pueritiam adulescentiamque transegit. Arcebat eum ab inlecebris peccantium praeter ipsius bonam integramque naturam, quod statim parvulus sedem ac magistram studiorum Massiliam habuit, locum Graeca comitate et provinciali parsimonia mixtum ac bene compositum. Memoria teneo solitum ipsum narrare se prima in iuventa studium philosophiae acrius, ultra quam concessum Romano ac senatori, hausisse, ni prudentia matris incensum ac flagrantem animum coercuisset. Scilicet sublime et erectum ingenium pulchritudinem ac speciem magnae excelsaeque gloriae vehementius quam caute adpetebat. Mox mitigavit ratio et aetas, retinuitque, quod est difficillimum, ex sapientia modum.


[4] Beide Großväter des Gnaeus Iulius Agricola, der aus der alten und berühmten Colonia Foroiuliensis stammte, waren Prokuratoren der Kaiser, was dem Ritteradel zufiel. Sein Vater war Iulius Graecinus, ein Mann von senatorischem Range, bekannt durch seine wissenschaftliche Betätigung mit Beredsamkeit und Philosophie, und durch ebenjene Vorzüge lud er den Zorn des Gaius Caesar auf sich: Er sollte nämlich den Marcus Silanus anklagen und wurde, weil er sich geweigert hatte, ermordet. Seine Mutter war Iulia Procilla, eine Frau von seltener Keuschheit. In ihrem Schoße nachsichtig ausgebildet, verbrachte er seine Kindheit und Jugend mit der Betätigung in allen edlen Wissenschaften. Neben seinem guten und unbescholtenen Wesen hielt ihn von den Verlockungen der Sündiger fern, dass er sogleich als kleiner Junge Massilia als Wohnort und Lehrerin der Fächer hatte, ein Ort, an dem griechische Geselligkeit und provinzialische Sparsamkeit vorzüglich vereinigt waren. Ich erinnere mich, dass er davon zu erzählen pflegte, in frühster Jugend das Studium der Philosophie energischer, weit mehr als einem Römer und Senator erlaubt, betrieben hätte, wenn nicht die Umsicht der Mutter seine entflammte und lodernde Leidenschaftlichkeit gebändigt hätte. Sein hochfahrendes und aufgewecktes Naturell suchte stets mehr heftig als vorsichtig die Schönheit und Zierde großen und stattlichen Ruhmes zu erlangen. Bald machten ihn Vernunft und Alter milder, und er bewahrte die schwierigste Lehre der Philosophie: das Maßhalten.

5. Agricolas Jugend - erster Kriegsdienst


[5] Prima castrorum rudimenta in Britannia Suetonio Paulino, diligenti ac moderato duci, adprobavit, electus, quem contubernio aestimaret. Nec Agricola licenter, more iuvenum qui militiam in lasciviam vertunt, neque segniter ad voluptates et commeatus titulum tribunatus et inscitiam rettulit: sed noscere provinciam, nosci exercitui, discere a peritis, sequi optimos, nihil adpetere in iactationem, nihil ob formidinem recusare, simulque et anxius et intentus agere. Non sane alias exercitatior magisque in ambiguo Britannia fuit: trucidati veterani, incensae coloniae, intercepti exercitus; tum de salute, mox de victoria certavere. Quae cuncta etsi consiliis ductuque alterius agebantur, ac summa rerum et recuperatae provinciae gloria in ducem cessit, artem et usum et stimulos addidere iuveni, intravitque animum militaris gloriae cupido, ingrata temporibus, quibus sinistra erga eminentis interpretatio nec minus periculum ex magna fama quam ex mala.


[5] Seinen ersten Kriegsdienst leistete Agricola in Britannien bei Suetonius Paulinus, einem sorgfältigen und gemäßigten Führer, zu dessen Zufriedenheit ab, von ihm auserwählt, damit er ihn durch das kameradschaftliche Zusammenleben gehörig kennenlernen konnte. Nicht freizügig, nach Art der jungen Männer, die ihren Kriegsdienst in Ausschweifung verwandeln, und nicht träge hat er seinen Tribunatstitel und seine Unwissenheit als Grund für Vergnügen und Urlaub vorgeschützt: sondern er lernte die Provinz kennen, stellte sich dem Heer vor, lernte von Erfahrenen, folgte den Besten, suchte nichts zu erreichen, um damit zu prahlen, lehnte nichts aus Furcht ab, und handelte vorsichtig und energisch zugleich. Immerhin hing Britannien zu keiner Zeit mehr am seidenen Faden: die Veteranen niedergemetzelt, die Kolonien angezündet, die Heere voneinander abgeschnitten; da kämpften sie um ihr Leben, bald darauf um den Sieg. Auch wenn all diese Dinge durch die Strategie und das Kommando eines anderen geschehen ist, der Erfolg im Ganzen und der Ruhm für die Wiedererlangung der Provinz dem Führer zukam, flößten sie dem jungen Mann dennoch theoretische Kenntnisse, Erfahrung und Ansporn ein; so befiel das Verlangen nach Kriegsruhm seine Seele, was einer Zeit unwillkommen war, die eine verkehrte Auffassung gegenüber hervorragenden Männern hatte und in der aus großem Ruhm nicht weniger Gefahr als aus übler Nachrede resultierte.


Anmerkungen und Hilfen

[1]
usitatum : Apposition, bezogen auf clarorum … tradere
antiquitus : Adverb „von alten Zeiten her“, modifiziert das substantivierte Partizipialadjektiv usitatus
ignorantiam recti et invidiam : Apposition zu vitium
agere : Subjektsinfinitiv zu pronum bzw. in apero erat
Rutilio et Scauro : Dat. commodi
citra fidem : „ohne Glaubwürdigkeit“
obtrectationi : Dat. finalis
incusaturus : nachzeitig zum irrealen petissem; Tacitus entwirft das Bild einer Welt, in der Denunziation und Anklage lieber gesehen sind als rühmende Worte

[2]
Aruleno Rustico Paetus Thrasea, Herennio Senecioni Priscus Helvidius laudati essent : sowohl die Lobredner als auch die Gelobten wurden allesamt von Kaisern getötet
ut monumenta … urerentur : explikativer ut-Satz zu ministerio
saevitum : add. est
in libertate : limitativ
cum voce : greift loquendi audiendique commercio wieder auf
oblivisci quam tacere : Subjektsinfinitive (substantiviert)

[3]
quamquam … miscuerit … augeat … adsumpserit : in Konzessivsätzen begegnet der Konjunktiv im silbernen Latein häufiger – ohne Bedeutung
nec spem modo ac votum securitas publica, sed ipsius voti fiduciam ac robur adsumpserit : das Prädikat ist auf beide Satzteile, jedoch in jeweils unterschiedlicher Bedeutung zu beziehen (Zeugma, Syllepsis)
oppresseris facilius quam revocaveris : generalisierende 2. Pers. Sg. und potentialer Konjunktiv
subit : hier absolut „sich einschleichen“
ut ita dixerim : Vergleichssatz, gewöhnlich mit Indikativ, hier mit potentialem Konjunktiv
Quid? Si : zur Anfügung eines steigernden Übergangs: „Was? Wenn …“ oder „ferner, überdies“
per silentium : kein Instrument, sondern ein begleitender Umstand
honori … destinatus : Dat. finalis
professione pietatis : dürfte hier kausal aufzufassen sein und wird von beiden Verben (ἀπὸ κοινοῦ) benutzt
interim … aut laudatus erit aut excusatus : Futur II um die Vorzeitigkeit zu piget im Satz zuvor auszudrücken

[4]
quae equestris nobilitas est : „was Ritteradel war“; das Relativum richtet sich, wenn es Subjekt ist und mit kopulativem Verb steht, in KNG nach dem Prädikatsnomen. So verhält es sich auch bei demonstrativer Formulierung jhaec nobilitas est, wobei wir im Deutschen gewöhnlich nicht „dieser ist Adel“ sagen, sondern mit neutralem Pronomen formulieren „dies ist Adel“, cf. auch Tac. Agr. 7 quae causa caedis fuerat
Gai Caesaris : i. e. Caligula
omnem honestarum artium cultum : Enallage, sc. omnium honestarum artium cultum
concessum : fasst man hausisse irreal (s. nächste Anmerkung) auf und dehnte diese Irrealität auf den Vergleichssatz aus, so ist concessum als concessum esset zu verstehen
hausisse : statt hausturum fuisse; gewöhnlich steht der Inf. Perf. der coniugatio periphrastica, wenn die Apodosis eines irrealen Konditionalgefüges Bestandteil eines AcI ist
retinuitque, quod est difficillimum, ex sapientia modum : der Relativsatz bezieht sich auf den ganzen Sachverhalt (das Bewahren von modus); möglich ist es auch den Rel.-Satz als Objekt zum Verb aufzufassen und modum als Apposition dazu.

[5]

castrorum rudimenta … Suetonio Paulino adprobavit : „erweiste dem Suetonius Paulinus seine ersten (Kriegs-)Lagerdienste (zu dessen Zufriedenheit)“ ~ „leistete den ersten Kriegsdienst bei Suetonius Paulinus (zu dessen Zufriedenheit) ab“
electus, quem contubernio aestimaret : der Relativsatz ist final zu sehen, der Ablativ instrumental
anxius et intentus : prädikativ, im Dt. eher adverbiell
ingrata temporibus : ingrata bezieht sich zurück auf cupido, temporibus ist Dat. commodi
quibus : m. A. einmal als Dat. possessivus zu klassifizieren und einmal als in temporibus (Zeugma), jeweils eine passende esse-Form zu denken
eminentis : [ = eminentes]




6. Agricolas Ämterlaufbahn - Quästur, Volkstribunat, Prätoriat


[6] Hinc ad capessendos magistratus in urbem degressus Domitiam Decidianam, splendidis natalibus ortam, sibi iunxit; idque matrimonium ad maiora nitenti decus ac robur fuit. Vixeruntque mira concordia, per mutuam caritatem et in vicem se anteponendo, nisi quod in bona uxore tanto maior laus, quanto in mala plus culpae est. Sors quaesturae provinciam Asiam, pro consule Salvium Titianum dedit, quorum neutro corruptus est, quamquam et provincia dives ac parata peccantibus, et pro consule in omnem aviditatem pronus quantalibet facilitate redempturus esset mutuam dissimulationem mali. Auctus est ibi filia, in subsidium simul ac solacium; nam filium ante sublatum brevi amisit. Mox inter quaesturam ac tribunatum plebis atque ipsum etiam tribunatus annum quiete et otio transiit, gnarus sub Nerone temporum, quibus inertia pro sapientia fuit. Idem praeturae tenor et silentium; nec enim iurisdictio obvenerat. Ludos et inania honoris medio rationis atque abundantiae duxit, uti longe a luxuria, ita famae propior. Tum electus a Galba ad dona templorum recognoscenda diligentissima conquisitione effecit, ne cuius alterius sacrilegium res publica quam Neronis sensisset.



[6] Von hier ging er nach Rom, um Ämter zu übernehmen, und heiratete Domitia Decidiana, die aus einer angesehenen Familie stammte; und diese Ehe lieferte dem Mann, der auf größeres sann, Zierde und Stärke. Sie lebten in wunderbarer Eintracht, in wechselseitiger Fürsorge und zogen sich einander vor, nur dass bei einer guten Frau das Lob desto größer ist, je schwerer die Schuld bei einer schlechten. Das Schicksal gab seiner Quästur die Provinz Asia, ihm als Prokonsul den Salvius Titianus. Keines dieser Ämter verdarb ihn, obgleich die Provinz sowohl reich war als auch offen für lasterhafte Menschen, und der Prokonsul, zu jeder Habsucht geneigt, mit beliebig großer Leichtigkeit die gegenseitige Verheimlichung des Bösen hätte erkaufen wollen. Dort wurde ihm eine Tochter geschenkt, zum Rückhalt und Trost zugleich; denn einen Sohn, den er zuvor erhalten, verlor er vor Kurzem. Daraufhin verbrachte er das Jahr zwischen Quästur und Volkstribunat und auch das Tribunat selbst in Ruhe und Muße, derjenigen Zeiten unter Nero kundig, in denen Nichtstun als Weisheit galt. Die Prätur verlief auf dieselbe Weise und in Stillschweigen; denn die Rechtsprechung war ihm nicht zugefallen. Die Spiele und Nichtigkeiten seines Amtes verrichtete er in der Mitte zwischen Vernunft und Überfluss, insofern dem Ruhm näher, als er der Ausschweifung fern war. Dann wurde er von Galba zur Überprüfung der Tempelgaben auserwählt und bewirkte durch seine äußerst sorgfältige Untersuchung, dass das Gemeinwesen nur noch den Tempelraub des Nero wahrgenommen hatte.


7. Tod der Mutter, Anschluss an Vespasian


[7] Sequens annus gravi vulnere animum domumque eius adflixit. Nam classis Othoniana licenter vaga dum Intimilium (Liguriae pars est) hostiliter populatur, matrem Agricolae in praediis suis interfecit, praediaque ipsa et magnam patrimonii partem diripuit, quae causa caedis fuerat. Igitur ad sollemnia pietatis profectus Agricola, nuntio adfectati a Vespasiano imperii deprehensus ac statim in partis transgressus est. Initia principatus ac statum urbis Mucianus regebat, iuvene admodum Domitiano et ex paterna fortuna tantum licentiam usurpante. Is missum ad dilectus agendos Agricolam integreque ac strenue versatum vicesimae legioni tarde ad sacramentum transgressae praeposuit, ubi decessor seditiose agere narrabatur: quippe legatis quoque consularibus nimia ac formidolosa erat, nec legatus praetorius ad cohibendum potens, incertum suo an militum ingenio. Ita successor simul et ultor electus rarissima moderatione maluit videri invenisse bonos quam fecisse.

[7] Das folgende Jahr brachte seinem Herzen und seinem Haus eine schwere Wunde bei. Denn die frei umherschweifende Flotte Othos verwüstete feindselig Intimillium (ein Teil Ligurien), tötete die Mutter Agricolas auf ihrem eigenen Grundstück, und plünderte ebenjenes Grundstück und einen großen Teil des väterlichen Erbes, welches der Grund für das Morden gewesen war. In der Folge brach Agricola zu den Feierlichkeiten der Pflicht eines Sohnes auf; überrascht von der Kunde, dass Vespasian die Herrschaft anstrebe, lief er sofort zu dessen Partei über. Die Anfänge des Prinzipats und die Umstände der Stadt lenkte Mucianus, weil Domitian noch sehr jung war und aufgrund der väterlichen Stellung nur von Ausgelassenheit Gebrauch machte. Dieser entsandte Agricola, um Aushebungen durchzuführen, und setzte ihn, da er tadellos und energisch gearbeitet hatte, an die Spitze der zwanzigsten Legion, die ihren Eid nur träge abgeleistet hatte und wo erzählt wurde, der Amtsvorgänger sinne auf einen Aufstand: ja auch den Konsular-Legaten war diese Legion zu viel und furchtbar, und kein prätorischer Legat vermochte ihr Einhalt zu gebieten, ungewiss, ob es an seinem Charakter oder dem der Soldaten lag. So wurde Agricola als Nachfolger und Bestrafer zugleich auserwählt, und wollte in seiner einzigartigen Milde so scheinen, Gute eher gefunden als geschaffen zu haben.

8. Agricola als Mitkommandant in Britannien


[8] Praeerat tunc Britanniae Vettius Bolanus, placidius quam feroci provincia dignum est. Temperavit Agricola vim suam ardoremque compescuit, ne incresceret, peritus obsequi eruditusque utilia honestis miscere. Brevi deinde Britannia consularem Petilium Cerialem accepit. Habuerunt virtutes spatium exemplorum, sed primo Cerialis labores modo et discrimina, mox et gloriam communicabat: saepe parti exercitus in experimentum, aliquando maioribus copiis ex eventu praefecit. Nec Agricola umquam in suam famam gestis exultavit; ad auctorem ac ducem ut minister fortunam referebat. Ita virtute in obsequendo, verecundia in praedicando extra invidiam nec extra gloriam erat.

[8] Damals kommandierte Vettius Bolanus Britannien, sanfter als es der Provinz würdig ist. Agricola bremste seine Energie und bändigte seinen Feuereifer, damit dieser nicht zu sehr zunehme, geschickt darin, Gehorsam zu leisten und Nützliches mit Ehrenhaftem zu verbinden. Kurz darauf empfing Britannien den Konsular Petilius Cerialis als neuen Statthalter. Verdienste hatten nun Raum für Beispiele, aber Cerialis ließ ihn zunächst nur an Arbeiten und Entscheidungen teilhaben, bald darauf aber auch am Ruhm: oft war er einem Teil des Heeres zur Probe vorgesetzt, nach günstigem Erfolg bisweilen auch größeren Truppenverbänden. Doch Agricola prahlte niemals mit seinen Taten, um seinen Ruhm zu mehren; als Untergebener führte er seine Erfolge auf seinen Lehrmeister und Führer zurück. So entging er durch seinen tugendhaften Gehorsam, durch seine Zurückhaltung beim Verkünden von Erfolgen dem Neid und war dennoch nicht ruhmlos.

9. Statthalterschaft in Aquitanien, Konsulat, Oberbefehl über Britannien


[9] Revertentem ab legatione legionis divus Vespasianus inter patricios adscivit; ac deinde provinciae Aquitaniae praeposuit, splendidae inprimis dignitatis administratione ac spe consulatus, cui destinarat. Credunt plerique militaribus ingeniis subtilitatem deesse, quia castrensis iurisdictio secura et obtusior ac plura manu agens calliditatem fori non exerceat: Agricola naturali prudentia, quamvis inter togatos, facile iusteque agebat. Iam vero tempora curarum remissionumque divisa: ubi conventus ac iudicia poscerent, gravis, intentus, severus et saepius misericors: ubi officio satis factum, nulla ultra potestatis persona [; tristitiam et adrogantiam et avaritiam exuerat]. Nec illi, quod est rarissimum, aut facilitas auctoritatem aut severitas amorem deminuit. Integritatem atque abstinentiam in tanto viro referre iniuria virtutum fuerit. Ne famam quidem, cui saepe etiam boni indulgent, ostentanda virtute aut per artem quaesivit; procul ab aemulatione adversus collegas, procul a contentione adversus procuratores, et vincere inglorium et atteri sordidum arbitrabatur. Minus triennium in ea legatione detentus ac statim ad spem consulatus revocatus est, comitante opinione Britanniam ei provinciam dari, nullis in hoc ipsius sermonibus, sed quia par videbatur. Haud semper errat fama; aliquando et eligit. Consul egregiae tum spei filiam iuveni mihi despondit ac post consulatum collocavit, et statim Britanniae praepositus est, adiecto pontificatus sacerdotio.


[9] Als Agricola von seiner Gesandtenstelle bei der Legion zurückkehrte, nahm der göttliche Vespasian ihn unter die Patrizier auf; und daraufhin machte er ihn zum Befehlshaber über die Provinz Aquitanien, die eine glänzende Vorrangstellung bezüglich Verwaltung und Hoffnung auf das Konsulat hatte, für das er ihn ausersehen hatte. Die meisten glauben, dass dem Verstand von Soldaten die Feinheit fehle, weil die Lagerrechtsprechung leichtfertig und ziemlich stumpf sei, und weil sie mehr mit der Hand regle und die Gewandtheit des Forums nicht übe: Agricola, von angeborener Klugheit, obgleich nun unter Togaträgern, handelte gewandt und gerecht. Ferner waren seine Zeiten für Verwaltung und Entspannung scharf getrennt: Sowie es Versammlungen und Gerichte erforderten, war er konsequent, energisch, streng und öfters barmherzig; sowie er genug für seine Pflicht getan hatte, war er keine Machtperson mehr [; Härte, Anmaßung und Habgier hatte er abgelegt]. Und, was sehr selten ist, weder verringerte seine Umgänglichkeit seine Geltung noch seine Strenge die Liebe zu ihm. Anständigkeit und Enthaltsamkeit bei einem so großen Mann zu nennen, wäre ein Unrecht an seinen Tugenden. Nicht einmal den guten Ruf, dem oft auch die Guten nachhängen, suchte er durch Prahlerei mit seiner Tüchtigkeit oder durch Kunstgriffe zu erwerben; fern vom Wetteifern mit seinen Amtskollegen, fern von Streit mit den Prokuratoren, glaubte er, Siegen sei unrühmlich und aufgerieben zu werden schmählich. Weniger als drei Jahre war er in dieser Funktion beschäftigt und wurde mit sofortiger Aussicht auf das Konsulat zurückberufen, wobei er vermutete, dass ihm die Provinz Britannia gegeben werde, nicht durch eigene Äußerungen bezüglich dessen, sondern weil er der Sache gewachsen schien. Nicht immer ist die öffentliche Meinung auf dem Irrweg – manchmal wählt sie auch den richtigen Mann aus. Als Konsul verlobte er mir im Jünglingsalter seine damals äußerst hoffnungsvolle Tochter und verheiratete sie mir nach dem Konsulat, und sogleich wurde er mit dem Oberbefehl über Britannien betraut; überdies erhielt er das Priesteramt des Pontifikats.




Anmerkungen und Hilfen


[6]

hinc : sc. ex Britannia
Sors quaesturae provinciam Asiam, pro consule Salvium Titianum dedit : die Benutzung von Inkonzinnitäten (hier zweifach semantisch, Amt vs. Amtsträger und Ort vs. Person) ist ein typisches Stilmerkmal des Tacitus; man beachte zusätzlich die Personifikation von sors
quorum : sinngemäßer Bezug auf quaestura und proconsulatus
paratus : „bereit“ i. S. v. „offen“
peccantibus : Dat. commodi
redempturus esset : anstelle von redemisset, zur zusätzlichen Bezeichnung der Absicht; die coniugatio periphrastica steht, sofern sie nicht in einem abhängigen Nebensatz gebraucht wird, gewöhnlich im Indikativ, wenn sie im Dt. den Irrealis der Vergangenheit bezeichnet; zu erwarten gewesen wäre hier also redempturus erat oder fuit; dass hier esset steht, dürfte sich damit erklären, dass die quamquam-Sätze nachklassisch öfters mit dem Konjunktiv stehen; cf. Tac. Agr. 3 quamquam … miscuerit … augeat … adsumpserit
uti … ita : hier restriktiv ita … ut „insofern, als dass"


[7]

vaga : attributiv auf classis
praediis suis : das sonst vornehmlich reflexive Possessivum bezieht sich hier auf einen obliquen Kasus (matrem evt. auch Agricolae)
quae causa caedes fuerat : cf. Tac. Agr. 4: quae equestris nobilitas est
ad sollemnia pietatis : sc. ad matrem funere efferendam
nuntio adfectati a Vespasiano imperi deprehensus : wörtlich „überrascht von der Kunde über die von Vespasian angestrebte Herrschaft“; adfectati imperi ist objektiver Genitiv
legatis … consularibus : In der Kaiserzeit steht consularis besonders für diejenigen Statthalter der kaiserlichen Provinzen, die Konsuln gewesen waren [Lateinisch-deutsches Handwörterbuch: consularis, S. 2. Digitale Bibliothek Band 69: Georges: Lateinisch-deutsches Wörterbuch, S. 13846 (vgl. Georges-LDHW Bd. 1, S. 1573)]
nimia : sc. legio, wie im Dt. „eine Nummer zu groß“; wegen ihrer Illoyalität
rarissima moderatione : und zwar gegenüber den Soldaten
maluit videri invenisse bonos quam fecisse : gemeint ist, den Soldaten mit Respekt entgegenzutreten, ihnen ihre Fehler zu verzeihen und nicht allzu belehrend zu wirken


[8]

dignum est : mit Ablativ; im Präsens, weil es ein Einschub des Erzählers, eine Rückbetrachtung ist
incresceret : fragwürdig, ob auf ardor oder Agricola bezogen; da increscere nirgendwo sonst im übertragenen Sinne für Personen gebraucht wird, scheint Ersteres zu präferieren zu sein (Vgl. Heubner 1984, 28); ein nimis ist sich sinngemäß zu denken
in suam famam : sc. ad famam augendam
ut minister : prädikativ (kausal gefärbt)
extra invidiam nec extra gloriam : extra hier „ohne, frei von“; nec hier = nec tamen


[9]

splendidae inprimis dignitatis administratione ac spe consulatus : splendidae dignitatis ist qualitativer Genitiv zu Aquitaniae, die Ablative sind limitativ, daher „von vor anderen (Provinzen) glänzender Stellung in Hinblick auf Verwaltung und Hoffnung auf das Konsulat“; ergo: die Provinz Aquitanien hat eine Sonderstellung unter den kaiserlichen Provinzen und wer diese verwalten darf, hat gute Chancen auf das Konsulat (Vgl. Heubner 1984, 30)
destinarat : synkopiert aus destinaverat
subtilitatem : welche subtilitas gemeint ist, wird durch den Kausalsatz näher bestimmt
manu agens : cf. Tac. Germ. 36 ubi manu agitur
exerceat : obliquer Konjunktiv
ultra : Adverb „weiterhin“
potestatis persona : Genitivus qualitatis
[; tristitiam et adrogantiam et avaritiam exuerat] : wahrscheinlich in Gänze oder zumindest von et adrogantiam et avaritiam zu tilgen (Vgl. Büchner 1985, 288-289)
illi : Dat. (in)commodi
Integritatem atque abstinentiam … : denn diese Eigenschaften gehören selbstverständlich zu einem solchen Mann dazu und sind gemessen an all seinen Verdiensten eher unterrangig
referre : Subjektsinfinitiv
fuerit : coniunctivus potentialis
per artem : despektierlich gemeint
collegas : die Statthalter in den anderen Provinzen (Vgl. Draeger 1891, 12)
procuratores : kaiserliche Finanzbeamte
et vincere inglorium et atteri sordidum : entweder sind die Adjektive prädikativ, die Infinitive substantiviert und es liegen doppelte Akkusative vor oder esse fehlt und die Adjektive nehmen die logische Funktion eines Prädikatsnomens im AcI ein (die Infinitive sind dann logische Subjekte)
statim ad spem : statim ist zu spem und nicht zum Verb zu ziehen
comitante opinione : Ablativus absolutus, davon abhängig der AcI Britanniam ei provinciam dari
nullis in hoc ipsius sermonibus : nullis sermonibus Abl. instrumenti, ipsius auf Letzeres bezogener Gen. possessivus („von ihm selbst“), in hoc Abl. limitationis
Consul … iuveni mihi : sowohl consul als auch iuveni sind prädikativ aufzufassen
egregiae tum spei : qualitativer Genitiv, eher auf filiam statt auf consulem zu beziehen; der Sinn ist „ein Mädchen, in das man damals seine Hoffnungen stecken konnte, dass sie einmal eine gute und schöne Frau sein wird“
pontificatus : das höchste Priesteramt; das Kollegium der pontifices wurden vom pontifex maximus angeführt



Imperator


gedruckt am 24.11.2024 - 22:03
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